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Die demokratische Parole

Noch niemals ist eine Bande von Usurpatoren so schnell fortgefegt worden wie die Kapp und Genossen. Noch niemals hat eine Volksparole eine so schnelle und gewaltige Wirkung gehabt wie die Aufforderung zum Streik. Sie war die eigentliche demokratische Parole, die die Grenzen zwischen den Links- und Mittelparteien niederlegte und für wenige Tage das ganze arbeitende Deutschland einigte.

Heute, nach zwei Wochen, gehört das alles schon der Vergangenheit an. Die alten Zwiste und Kämpfe sind wieder da. Man mag das bedauern, aber die Stimmung eines großen Augenblickes läßt sich nicht auf Flaschen ziehen. Möge wenigstens die Erinnerung leben bleiben und von neuem wirken, wenn neue Krisen es nötig machen, das ganze Volk zusammenzuschweißen. Möge es auch den republikanischen Parteien in Fleisch und Blut übergegangen sein, niemals etwas zu unternehmen, was auch nur unfreiwillig den Feinden des freien Volksstaates Wasser auf die Mühle liefern könnte. Jede Partei, der die Unantastbarkeit der Republik heilig ist, richte ihre Taktik danach ein.

Die Gefahr ist nicht geringer geworden. Kapp ist abgereist, seine anonymen Paladine sind geblieben. Ihre erste Tat war die Beschwörung des bolschewistischen Gespenstes. So unendlich läppisch und durchsichtig auch das Märlein von der roten Gefahr ist, wirkt es gerade aus diesem Grunde sehr überzeugend auf diejenigen, die nicht alle werden. Der Plan der Reaktionäre ist sehr einfach; man will die Reichswehr in der gegenwärtigen oder einer sehr geringfügig veränderten Zusammensetzung erhalten, um der Gegenrevolution auch für die Zukunft dieses so leicht zu handhabende Instrument zu sichern. Die Stellung der neuen Regierung aber wird davon abhängen, mit welcher Entschiedenheit sie dieses Problem anpackt.

Es läßt sich nicht gerade behaupten, daß ein Übermaß von Vertrauen an der Wiege des Kabinetts Hermann Müller in Bereitschaft ist. Das Kabinett verdankt seine Existenz einem nicht gerade erquicklichen parlamentarischen Kuhhandel, dem die breiten Massen halb befremdet, halb spöttisch folgten. Man soll nicht verhehlen, daß heute überall Enttäuschung und Verbitterung herrschen. Die Soldateska, die von Lüttwitz zu Seeckt hinübergewechselt hat, wirtschaftet ungestört weiter. Übergriffe schlimmster Art sind auf der Tagesordnung. Arbeiter, die zur Verteidigung der Republik die Waffe erhoben haben, werden von Seeckts »republikanischen« Truppen vor Standgerichte geschleppt. Man hat Beschwerde geführt, daß einzelne Formationen am Stahlhelm ein Fragezeichen führen. Eher ist zu bedauern, daß nicht mehr Truppenteile zu dieser Offenherzigkeit gelangt sind. Im allgemeinen geben in den östlichen Vororten die Soldaten über ihre Mission die folgende Auskunft: »Wir haben weder mit der alten, noch mit der neuen Regierung etwas zu schaffen – wir wollen nur die Ordnung wiederherstellen!«

Kein Einsichtiger wird die gefährliche Situation der neuen Regierung verkennen und unnütz Schwierigkeiten schaffen wollen. Aber es ist Pflicht, die Regierung hinzuweisen auf die Stimmung der Massen, die die Verfassung verteidigt, die Säbelherrschaft abgewehrt haben. Es ist undenkbar, die Politik der Noske und Heine fortzusetzen, denen die schlechte Laune einiger Generale mehr Kopfschmerzen bereitete als die Empörung des ganzen Volkes.

Nicht Kraftmeiertum soll die Regierung zeigen, sondern Kraft. Ihre Aufgabe ist schwer, aber in der unerschütterlichen republikanischen Überzeugung aller politisch Denkenden findet sie eine nie versiegende Hilfsquelle. Gewiß, weite Schichten des Volkes stehen unter dem Einfluß radikaler Agitatoren. Aber so verblendet sind nur wenige, als daß sie von der Regierung Lösung aller Fragen im Handumdrehen erwarten. Die Massen verlangen von den führenden Männern nur vollkommene Offenheit, Übereinstimmung von Wort und Tat. Die fortwährende Vertuschung hat die alten Kabinette im Reich und in Preußen unmöglich gemacht. Unbedingte Wahrhaftigkeit, Politik der Eindeutigkeit, das ist die demokratische Parole für die kommende schwere Zeit.

Berliner Volks-Zeitung, 1. April 1920


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