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Nach der Sturmflut

Die Wasser stiegen und der Wind heulte seine wölfischsten Melodien. Aber schließlich ist die Regierungsarche mit dem netten schwarzrotgoldenen Fähnchen doch wieder in Berlin gelandet. Die Passagiere stiegen aus, nachdem sie vorher sorgsam alle Gelasse öffneten, um ihren behaarten, befiederten und beschuppten Reisebegleitern die Freiheit wiederzugeben. Gott, war das ein Brüllen und Mauzen, ein Zwitschern und Zirpen und Krähen! Thomas Murner, der unbestechliche Chronist, wünschte im stillen, es wäre manches von dem Getier mitersoffen.

*

Eine Parlamentswahl bedeutet im allgemeinen, so viel auch davon hergemacht wird, keine Epoche. Diesmal geht es um mehr. Gesetzmäßigkeit oder Anarchie, das ist die Frage. Man soll gewiß vorsichtig sein mit Werturteilen über das Wirken politischer Körperschaften, erst der rückwärtsschauende Prophet, der Historiker, wird zum letzten Schluß kommen dürfen, aber – die Nationalversammlung hat im wesentlichsten versagt. In tragischer Stunde zusammengetreten, von Stürmen umtost, versuchte sie in allen Dingen die Mitte einzuhalten und wurde darüber mittelmäßig. Sie war bienenfleißig und sehr tolerant. Als Preuss mit seinem ersten Verfassungsentwurf Zorn und Entsetzen erregte, reichte man ihm nicht in antikischer Wallung den Schierlingsbecher, sondern den Kleistertopf. Man klebte, klebte sehr viel. Man war emsig, aber der Ideenfluß war dünn, zweiter, dritter Aufguß. Man lebte wie in der Luft geruhiger Zeit. Und draußen tobte ein Volk, von Krieg und Revolution hungrig und erhitzt, mit leerem Magen und brennendem Hirn. Das ist das Manko der Nationalversammlung, daß sie diese Strömung von unten nicht begriffen hat. Sie fühlte als ihre Aufgabe, das Chaos niederzuringen (ihr Wille in Ehren), doch hatte sie nicht den Arm des heiligen Georg, sondern nur die mangelnde Einsicht eines sehr, sehr bürgerlichen Ordnungsretters. Sie verstand nicht, daß in Dunkelheit und Unsicherheit, in Irrtum und Demagogentum meinetwegen, ein Ethos war und eine Hoffnung. Sie sah nur Verärgerung und Hohn um sich, und da sie die Ursachen nicht verstand, fand sie auch nicht die Heilmittel.

Nun geht ihre Arbeit zu Ende. Indem wir nochmals ihren Fleiß anerkennen, verschweigen wir nicht ihre Grenzen. Nicht um in Vergangenem wohlig herumzurühren, sondern der Zukunft wegen.

Wir wollen weiter! Wir wollen Veraltetes überwinden, durch Höheres ersetzen.

Brüder, werdet hart! ruft Carl Riess in diesen Blättern.

Monisten. Freunde der Kultur, nehmt diesen Ruf auf!

Reveille! Reveille!

Es geht um die Zukunft!

*

Es gibt viele, die den Parlamentarismus für überwunden erachten und ihn seinem natürlichen Tode entgegenschlendern sehen. Nichtsdestoweniger werden auch diejenigen sich an der Wahl beteiligen, die andere Systeme für wertvoller halten als das parlamentarische. Es wäre auch töricht, eine Institution mit Verachtung zu strafen, von der aus es sich am günstigsten zur gesamten Öffentlichkeit sprechen läßt. Es soll hier jedoch nicht über Wert oder Unwert des Parlamentarismus abgehandelt werden. Auch das Parlament ist nur eine Summe von lebenden Menschen. Sorgen wir, daß die Auslese dieser Personen eine bessere wird. Daß Geistigkeit. Aktivität, modernes Fühlen hineinkommen. Das ist nicht in dem Sinne gemeint, daß jemand, der demokratisch wählte, nunmehr sozialistisch wählen soll, oder umgekehrt. Der Monistenbund ist überparteiisch und soll es bleiben. Aber unsere Freunde, die in vielen Parteien tätig sind, sollen dafür wirken, daß bei der Auswahl der Kandidaten nicht Alter, Bezirksvereinsmeriten (und häufig genug Mittelmäßigkeit) empfehlend den Ausschlag geben. Das Parlament soll nicht eine Sammlung von Parteibonzen, sondern von Persönlichkeiten sein.

Monisten, Freunde der Kultur, seid wachsam!

*

Seid doppelt wachsam in einer Zeit, in der unser Volk gegen Wind und Sonne zu kämpfen hat. Wir brauchen ein Parlament, das den Gemeinschaftsgeist in diesem Volk verkörpert, nicht nur seine Gegensätze. Und daß davon noch ein Funke lebendig ist, hat der große Streik gegen den Staatsstreich bewiesen. Mit Recht feiert Carl Riess die geraffte Kraft, die sich in dieser gewaltigen Auflehnung offenbarte, und bezeugt freudig, daß wir doch noch zu einer einmütigen Tat fähig sind. Unterstreichen wir dreimal seine Forderung, diese Tatkraft zu wahren und zu stärken.

Denn mit dieser Sturmflut ist die Gefahr nicht vorüber. Zwar ist die Arche glücklich gelandet, und man hat auch die weiße Taube steigen lassen. Aber schon nach kurzem Flug überfiel sie ein Geier und drehte ihr das Genick um. Seitdem fliegt er über die deutschen Lande, wie zum Hohn, den Ölzweig im krummen Schnabel.

Nennen wir ihn – Parteiegoismus!

Monistische Monatshefte. 1. Mai 1920


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