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Deutschland und die französische Krise

Die jüngste Haltung des englischen Premierministers scheint doch nicht, wie französische Blätter glauben machen möchten, auf eine »kurze Spanne schlechter Laune« zurückzuführen zu sein. Obgleich Herr Lloyd George im letzten Semester mehr als einmal seinen Standpunkt gewechselt und sich dem französischen angepaßt hat, ist er diesmal doch mit einer Energie aufgetreten, die an seine besten Tage als Minister der Reformen erinnert. Wer sich so verpfändet hat, kann nicht mehr zurück. Die deutschen Parteien aber, die das Ultimatum unterzeichnet haben, können diese günstige Wandlung der Engländer in der oberschlesischen Frage auf ihr Pluskonto schreiben.

Zu verwundern ist natürlich nicht, daß die Hasardpolitiker jetzt die Köpfe heben und einen Bruch in der Entente wittern. Das ist die ewige Torheit dieser Menschen, die, seit man ihnen die imperialistischen Krallen wegoperiert hat, nun in ihrer Ohnmacht sich wilden Katastrophenphantasien hingeben. Ohne Zweifel ist die Verstimmung zwischen London und Paris groß, und selbst wenn in den wichtigsten Punkten eine Verständigung erzielt wird, einerlei wer nachgibt, ein bitterer Nachgeschmack wird bleiben. Aber von einem Auseinanderfallen der Entente zu reden, ist ebenso dumm wie frivol. Das beste Mittel zur festeren Zusammenfügung der alliierten Mächte sind solche Zeitungsartikel mit ihren mangelhaft verhüllten Spekulationen. Glaubt man denn wirklich, die Entente würde nicht wie ein Mann zusammenstehen, wenn der deutsche Militarismus, der in den nationalistischen Parteien seinen Unterschlupf gefunden hat, sein Haupt erheben würde? Ein Deutschland, das merken lassen würde, wie sehr es auf die Zerbröckelung der anderen Seite wartet, wäre im Augenblick das Opfer einer frisch geeinten und neugekräftigten Mächtekoalition. Gesetzt den Fall aber, es würde Frankreich sich separieren? Dann würde es, unabhängig von jeder Bindung, Deutschland seine Faust spüren lassen. Glaubt irgend ein Mensch von gesunden Sinnen, England und Italien würden außer warnenden Noten noch etwas anderes unternehmen, um Deutschland vor Vergewaltigung zu schirmen? Es ist also wohlverstandenes Interesse, wenn der Wunsch ausgesprochen wird, die Verstimmung zwischen Paris und London möge keine weitern Kreise ziehen. Den lachenden Dritten, den in der Stille Bereiten kann man nur spielen, wenn man ein Mindestmaß von Macht hat. Dagegen wird Deutschlands Haltung in diesen Tagen für die Entente eine Feuerprobe auf dessen Loyalität bedeuten. Es ist begrüßenswert, daß der Reichskanzler Dr. Wirth sich mit solcher Entschiedenheit für Methoden ausgesprochen hat, deren frühere Anwendung dem deutschen Reiche manche Demütigung und manche trübe Stunde erspart hätte.

Frankreich macht zurzeit eine schwere Krise durch. Die nationalen Leidenschaften waren aufgepeitscht. Allgemein wurde mit Deutschlands Nein gerechnet. Und die Besetzung schien unweigerlich Tatsache werden zu wollen. Und nun stellt sich die Reaktion ein, die aus Empörung und Katzenjammer gemischte Empfindung, die sich nach jedem mit aller Force geführten Lufthieb einstellt. Vielleicht hinkt der Vergleich mit jener Stimmung nicht, die in Deutschland in den Tagen der Juli-Resolution aufkam. Damals zerbliesen plötzlich lange und mit Liebe genährte Illusionen. Heeresberichte wurden plötzlich mit Kritik gelesen, der alleinseligmachende U-Bootkrieg angezweifelt. Die Menschen schienen über Nacht andere Augen bekommen zu haben. Und zwischendurch tobten sich wildeste Rückfälle in Kriegsmentalität aus, wurden die Forderungen der Vaterlandsparteiler immer maßloser, die Sprache immer ungezügelter. Natürlich sind die äußeren Umstände in Frankreich ganz anders. Aber der Untergrund ist der gleiche – die namenlose Enttäuschung, das traurige Bewußtsein, kostbare Energie umsonst verschwendet zu haben, nutzlos geschwächt zu sein.

Es erübrigen sich Betrachtungen, wie lange die französische Krise währen kann. Daß sie aber nicht abläuft wie das Gebalge um die Juli-Resolution, nämlich mit dem Entschluß, den Wahnsinn bis zum schlimmen Ende weiterzutreiben, sondern zum Heile Europas und zum gemeinsamen Wiederaufbau, das liegt nicht zum wenigsten in der Hand Deutschlands. Je beherrschter sich die Politik Deutschlands zeigt, je sicherer der Kurs der Demokratie gesteuert wird, desto eher kann drüben aus Enttäuschung und Überreiztheit ein neues Empfinden für die Situation Gesamteuropas entspringen und nach Jahren des Aneinandervorbeiredens ein gemeinsamer Verhandlungstisch deutsche und französische Vertreter friedlich und schiedlich vereinen. Wenn auch nicht gerade die Herren Stinnes und Loucheur, in deren Interesse weit eher das rollende Auge und die geballte Faust liegt.

Berliner Volks-Zeitung, 21. Mai 1921


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