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Matinee in der »Tribüne«
»Marcella« von Werner Schendell

Vor fast drei Jahren wurde das Theater »Die Tribüne« eröffnet mit der Bestimmung, der dramendichtenden Jugend ein Refugium zu bieten. Und an dieser Stätte wird nunmehr Abend für Abend ein larmoyanter Pariser Schmarren gegeben, und die Jugend kommt alle Jubeljahre einmal in einer eiligen Mittagsvorstellung zu Wort. Daß das nicht an der Schlechtigkeit des jetzigen Direktors liegt, wird in bündiger Weise bewiesen durch das Opus I des Herrn Schendell. Was hilft das Programm, wenn eben die jungen Dramatiker fehlen! Handelte es sich hier einzig um eine Manifestation der persönlichen Talentlosigkeit des Herrn Schendell, könnte man schnell zur Tagesordnung übergehen. Aber dieses blutleere, temperamentlose, geschwätzige und prätentiöse »Schauspiel« ist grausam typisch für eine Jugend, die sich so ungeheuer intellektuell gebärdet und deren literarische Produkte doch eben immer wieder verraten, daß es sicherlich nicht der ordnende und klärende Intellekt war, der Pate gestanden, sondern eine hemmungslose, alles Fühlen und Denken verduselnde Rhetorik, gemischt mit einer kräftigen Dosis Hintertreppe.

Fräulein Marcella will das Kind, empfangen in einer Stunde des Taumels von einem unterwertigen Schürzenjäger, nicht austragen. Da diese Operation jedoch in einem etwas zu vorurteilslosen Institut geschieht, wird nicht nur die Leibesfrucht vernichtet, sondern Marcellas Schoß für ewige Zeiten zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Sie schreibt diesen Unglücksfall nicht der eigenen Dummheit zu, sich dem erstbesten Kurpfuscher in die Hände geliefert zu haben, kühlt ihre Wut auch nicht an dem frivolen Verführer oder an der kaltschnäuzig höhnenden Rivalin, sondern würgt deren unzweifelhaft unschuldiges Baby mit ihren eigenen weißen Händen ab, um dann vermittelst Gift eine Welt zu verlassen, auf der eine so erfrischend subjektive Handlungsweise gesetzlich geahndet wird. Der Schürzenjäger ist indessen, streng aber gerecht, von einer anderen Dame, die wir zum Glück nicht zu sehen bekommen, mit einer ätzenden Säure um Augenlicht und Schönheit gebracht worden. Marcella stirbt, seinen Namen auf den Lippen. O ja, die Seele ist ein weites Land! Und Herrn Sudermann hat man dreißig Jahre lang bitteres Unrecht getan; neben diesem Vertreter jüngster Dramatik darf er widerspruchslos als Ausbund an Geschmack und psychologischer Treffsicherheit gelten.

Des Regisseurs Heinz Goldberg geschickte Hand brachte die Aufführung um die Klippe der Lächerlichkeit herum. Hermine Sterler hat die Erscheinung und Geste einer Königin; was könnte sie am rechten Platze bieten! Konrad Veidt gab sich redlich Mühe, die dämonische Überlegenheit des Verführers durch brünstige Gutturallaute verständlich zu machen, aber es wurde bei der Schwäche der Rolle kein Condottiere der Liebe daraus, sondern nur ein schmales Lümpchen.

Berliner Volks-Zeitung, 19. Dezember 1921


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