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Ich träume ...

Was der Tag gebracht, gleitet nochmals vorüber, bald komisch verzerrt, bald tragisch vertieft. Und dann ein Sturz durch dunklen Raum ... Vorhang auf! Spiele beginnen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Ich träume von einem Völkerbund, der die Gerechtigkeit liebt und den wunden Völkern ein Pfleger ist. Ich träume von deutschen Gerichtshöfen, die Mordtaten, an deutschen Republikanern begangen, sühnen ... Welch fremde, abenteuerliche Region!

Ich träume, daß man Käthe Schirmacher zur deutschen Nationalheiligen erhoben: sie steht auf hohem Piedestal (aus den letzten Jahrgängen der »Deutschen Zeitung«), gestützt auf ein äußerst respektables Schwert; ihr Haupt ziert ein gewaltig hoher Walkürenhelm, ein festliches schwarz-weiß-rotes Oberkleid läßt den Schuppenpanzer durchschimmern. Unzählig Volk liegt auf den Knien und adoriert sie. Mit segnender Gebärde schwingt sie über den Häuptern der Andächtigen einen grünen Pompadour. Da kommt plötzlich ein stürmischer Spagatregen über die erhebende Versammlung. Schreiend jagt die Menge auseinander; die verlassene Göttin strebt in Eile von dem weicher werdenden Sockel herab. Sie spannt den Regenschirm auf (ich sehe nun, daß das, was ich für ein Schwert gehalten, eigentlich ein Parapluie ist) – aber es nützt nichts, denn der Helm ist viel zu hoch und die Kette zu fest. Die Arme wird klitschenaß; ich will ihr zur Hilfe eilen... da entführt mich eine gewaltige Faust durch die Lüfte und setzt mich erst ab in der Neuen Welt an der Hasenheide. Auf dem Podium steht, unter rotem Banner, Max Maurenbrecher – er ist inzwischen Kommunist geworden – und schleudert Brandpfeile wider die Bourgeoisie. Aber unten im Saale, da sitzen beieinander alle Parteien und Bünde, die er im Laufe seines Erdenwaltens mit kurzem Besuch beehrte. Und es erhebt sich ein großes Gezänk, bei wem er wohl am längsten ausgehalten. Es ist ein fürchterliches Gegröhle; alle beteiligen sich daran, es erscheint sogar der Schatten der abgeschiedenen Nationalsozialen Partei, um seine Ansprüche geltend zu machen. Die Freireligiöse Gemeinde Mannheim wird handgemein mit der Dresdner evangelischen Gemeinde, und in den Haaren liegen sich Monistenbund und Protestantenverein. Noch einmal schmettert der vielumstrittene Mann ein Hoch auf die Dritte Internationale durch den ohrenbetäubenden Lärm – dann verläßt er den Saal am Arm der triumphierenden Deutschen Volkspartei... Abermals eine Luftreise. Neukölln aus der Vogelperspektive. Dann Gleitflug ins Bett und Erwachen.

Da liegen die Morgenzeitungen. O Traum, du bunter Gaukler, wie leer und langweilig und wie wenig seherisch bist du doch! Da, auf der ersten Seite des Blattes enthüllt sich die prosaisch gescholtene Wirklichkeit, von deren phantastischen Linien du keine Ahnung hast. Geh schlafen, Traum! Das Abenteuer lockt. Ich springe hinein.

Berliner Volks-Zeitung. 21. Januar 1921


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