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Frankreichs Ostpolitik
Die geplanten Truppentransporte

Die Meinungsverschiedenheit zwischen England und Frankreich in der oberschlesischen Frage lenkt wieder einmal die Blicke auf die Motive der gesamten französischen Ostpolitik. Gewiß ist Frankreich in Oberschlesien aufs engste mit Polen liiert und nimmt mit einem Eifer dessen Sache wahr, der allmählich das peinliche Befremden der ganzen nichtfranzösischen Welt erregt hat. Doch wenn man versucht, die eigentliche Struktur der französischen Politik zu erfassen, ohne sich durch das trügerische Flitterkleid der Polenfreundschaft täuschen zu lassen, kann man zu Schlüssen gelangen, deren Nüchternheit neben dem offiziellen Enthusiasmus sich einigermaßen seltsam ausnimmt.

Frankreich hat dem Pufferstaat Polen die an und für sich etwas unwahrscheinliche Rolle einer Kontrollstation für Deutschland und Sowjet-Rußland zugedacht. Aus diesem Gedankengang heraus erklärt sich, warum so wenig für Polens territoriale Erweiterung und Hebung seines wirtschaftlichen Niveaus gesorgt wird. Sollte das oberschlesische Industriegebiet schließlich doch an Polen fallen, so würde die ökonomische Oberregie natürlich von Frankreich übernommen werden. Denn letzteres hat nicht nur sehr viele durch den Krieg erfahrene Verluste zu decken, schmerzhaft brennt auch noch die Erinnerung an jene Milliarden, die es einst der zaristischen Regierung als Besiegelung des Bündnisses mehr optimistisch als besonnen vorgestreckt hat. Es gilt also sehr viel herauszuwirtschaften. Und Frankreich mußte sich auf Polen respektive Oberschlesien versteifen, nachdem in den letzten beiden Jahren die bolschewistische Herrschaft sich immer mehr zu stabilisieren schien und kein vernünftiger Mensch damit rechnete, es könnte Herrn Lenin etwa einfallen, die Schulden des vergangenen Regimes abzutragen. Diese französische Einstellung muß sich ganz mechanisch in dem Augenblick ändern, wo in Moskau ein Herrschaftswechsel eintritt.

Solche Hoffnungen hegt heute die russische Gegenrevolution, aber auch die demokratisch-sozialistische Diaspora in allen Hauptstädten der Welt. Die Hungerkatastrophe hat die Sowjetregierung an den Rand des Abgrundes gebracht, und wenn es vielleicht auch eine Täuschung ist, als genügten ein paar Stöße, um das in allen Fugen krachende Gebäude vollends zusammenstürzen zu lassen, so stehen doch die Chancen der russischen Oppositionellen günstiger als selbst in den Tagen der Denikin und Judenitsch. Daß diese Opposition ideell und materiell über wesentliche Kräfte verfügt, kann nicht bezweifelt werden. Ebenso wird wohl durchaus der von Tschitscherin [in] seiner Note an Polen sehr drastisch geschilderte Zustand durchaus zutreffen, wonach Polen zur Zeit als Hauptquartier aller weißgardistischen und überhaupt oppositionellen Bestrebungen anzusehen ist. Sollte es in absehbarer Zeit also doch zu einem Umschwung kommen, so hat Frankreich, der Inhaber einer großen Rechnung, alles Interesse, dabei zu sein.

Wenn Frankreich gegenwärtig mit einem scheinbar fast hysterischen Temperamentsaufwand auf der Entsendung von Truppen nach Oberschlesien besteht, so ganz gewiß nicht, weil es rettungslos dem persönlichen Zauber des Herrn Korfanty verfallen ist, sondern, um am Rande der russischen Zone in Bereitschaft zu stehen und den Augenblick zu erwarten, wo aus Polen, aus Rumänien, aus den Randstaaten die Emigranten einbrechen, um den Bolschewismus zu liquidieren. In diesem historischen Augenblick muß Frankreich seine Autorität geltend machen, muß es die Gloriole des Retters sich erringen, wenn es mit einiger Aussicht auf künftige Erfüllung seine alten Ansprüche neu anmelden will. Und seine Aussichten werden umso größer sein, je ärger die allgemeine Deroute nach einem etwaigen Sturze der Sowjetregierung sein wird.

Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, welche Zukunftsgefahren solche Politik in sich birgt. Mögen die Männer der ersten nachbolschewistischen Regierungen tausendmal Puppen der Drahtzieher vom Quai d'Orsay sein, dieses russische Volk läßt sich dauernd von Fremden nicht versklaven. An dem Problem Rußland hat sich schon mancher die Zähne ausgebissen: England hat zuerst begriffen, daß die Grobheiten Tschitscherins noch immer leichter zu schlucken sind als die Konsequenzen gewaltsamen Eingreifens. Schon einmal ist französischer Imperialismus an Moskau zerbrochen. Und Deutschland, das Rußland doch militärisch auf die Knie gezwungen hat, ist schließlich an seinem Pyrrhussieg verblutet. An Rußlands weiten, ungeheuren Ebenen wird Unterdrückerwille ziellos und torkelt endlich betäubt ins Wesenlose. Das Schlußkapitel der Akte Moskau heißt für den verwegenen Eroberer stets: Sankt Helena.

Berliner Volks-Zeitung. 26. Juli 1921


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