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»Orgesch«

Zunächst: »Orgesch« ist eine Telegrammadresse.

Im Hirne des unorientierten Lesers wird nach dieser Erläuterung sofort eine Ideenverbindung mit dem Begriff Orgie entstehen. Und das ist vollkommen richtig. Denn dieser nom de guerre der »Organisation Escherich« deckt eine Orgie in des Wortes verwegenster Bedeutung. Ein Bacchanal spießerlich-reaktionärer Ordnungs-Ungeister, das in der konterrevolutionären Kahr-Residenz München seinen Anfang nahm und ganz allmählich Dreiviertel Deutschlands zum Tanzplatz gemacht hat.

Eine Organisation zur Verhinderung der Entwaffnung. Dem Forstrat Escherich in Isen bei München wird nachgesagt, er habe sich als Leiter der »forsttechnischen Auswertung« des Urwaldes von Bialowich einen guten Namen gemacht. Nach dem Zusammenbruch der Münchener Räterepublik im vergangenen Jahre stellte er seine in der russischen Etappe vervollkommneten organisatorischen Talente in den Dienst der damals ins Kraut schießenden Einwohnerwehren. Aus einem dunklen Wahlgange ging er als »Landeshauptmann« der bayrischen Einwohnerwehren hervor. Es versteht sich von selbst, daß diese Wehren absolut unpolitisch sind und lediglich den »Bolschewismus« zu bekämpfen haben. Zur Aufrechterhaltung dieses unpolitischen Charakters werden sie alle Augenblicke gründlich »ausgekämmt«, und, seltsam spielt der Zufall, es sind regelmäßig Demokraten und Sozialisten, die ausgeschieden werden. Die Kunde von Escherichs Tüchtigkeit sprach sich herum; seit einiger Zeit spielt er auch in den norddeutschen Wehren eine nicht geringe Rolle.

Vor einigen Tagen war der »Vorwärts« in der Lage, ein Aktionsprogramm der Orgesch zu veröffentlichen. Man muß dem sozialdemokratischen Blatt vollkommen recht geben, wenn es auf Grund dieses Materials die ganze famose Organisation als »eine Zusammenstellung aller bestehenden legalen und illegalen bürgerlichen Geheimbewaffnungen« bezeichnet. Das Aktionsprogramm stammt aus einer Sitzung, die am 12. Juni dieses Jahres in Berlin unter Ausschluß der Öffentlichkeit getagt hat.

Die Gesamtleitung liegt beim Stabe Escherich (Berlin–München). Dieser unterstehen die Provinzialleitungen, die geführt werden von je einem zivilen und einem militärischen Leiter. Die Zivilleiter sind von Escherich durch Handschlag zu vereidigen. (Unter den militärischen Leitern befindet sich auch der Graf von der Goltz, ein bekannter Baltikumer-Häuptling). Charakteristisch ist auch die Bestimmung, daß in die provinzialen Körperschaften je ein Vertreter von Handel und Industrie aufzunehmen ist. Jedenfalls die Kontrollorgane der Geldgeber.

Als Aufgaben der Orgesch werden bezeichnet: 1. Freimachen von Reichswehrtruppen bezw. von Sipo (Sicherheitspolizei) durch Zuführung ziviler Kräfte; 2. Aufstellung beweglicher Formationen.

Das bedeutet, wie der »Vorwärts« bemerkt, nicht mehr und nicht weniger als Neuformierung jener Zeitfreiwilligen-Organisationen, deren offizielle Auflösung zwar verfügt ist, die aber noch heute Waffen und Ausrüstung besitzen und sich als »Sportsklubs« und dergleichen weitertummeln.

Bemerkenswert sind die beiden ersten Abschnitte des Programms:

»I. Durch Besprechung mit Vertretern einer Regierungsstelle ist folgendes erreicht und zugestanden:

  1. Orgesch ist eine legale Organisation;
  2. Die Geldfrage ist vom Staate zu lösen.

Der bekannte Zuchthausparagraph ist durch diese Anerkennung seitens der Regierung auf Angehörige der Orgesch nicht anwendbar.

II. Der Aufruf der Orgesch erfolgt durch Escherich im Benehmen mit der Regierung. Bei Aufruf der Orgesch erklärt die Regierung gleichzeitig den Ausnahmezustand.

Die Orgesch unterstellt sich den militärischen Oberbefehlshabern, solange diese auf dem Boden der Satzungen von Orgesch stehen.« (!)

Kaum hatte der »Vorwärts« diese interessanten Mitteilungen veröffentlicht, als ein Massenaufgebot von Dementierspritzen erfolgte. In der offiziösen »Deutschen Allgemeinen Zeitung« wurde erklärt, daß weder das Reichswehrministerium noch sonst irgend eine amtliche Stelle damit etwas zu tun habe. Herr Escherich selbst gab zwar die Sitzung vom 12. Juni zu, behauptete aber, der Zweck der Vereinigung sei, die Verfassung zu schützen, sowie jeden Rechts- und Links-Putsch abzuwehren. Im Gegensatz zu diesen Dementis aber schreibt die »Deutsche Zeitung« in einem Anfalle von Offenherzigkeit: »Die vom »Vorwärts« veröffentlichten Mitteilungen über den Aufbau der Escherich-Organisation sind richtig, aber der »Vorwärts« muß selbst zugeben, daß es sich um eine legale Organisation handelt. Seine Frage, welche Regierungsstelle die Organisation anerkannt hat, können wir dahin beantworten, daß unseres Wissens sowohl der Reichsminister des Innern, Koch, als auch Reichswehrminister Geßler nach eingehenden Besprechungen mit Herrn Escherich diesem ihre Unterstützung zugesagt haben.«

Also doch die Herren Minister! Wer die Schwärmerei der beiden genannten Herren für die Einwohnerwehren kennt, der wird leider annehmen müssen, daß die »Deutsche Zeitung« nichts Falsches berichtet hat.

Warum wird diese Angelegenheit so ausführlich einem Schweizer Leserpublikum dargestellt? Ich glaube, mit Recht behaupten zu können, daß die deutsche Entwaffnung keine deutsche oder ententistische, sondern einfach die europäische Angelegenheit ist. Einem einseitigen Machtgebot, einem Diktat entspringend, soll aus dieser Handlung eine neue Epoche erwachsen, die auch den anderen heute noch in Waffen starrenden Völkern die Arsenale schließt.

Von ganz aktueller Bedeutung aber ist der andere Umstand, daß auch die Reaktion international arbeitet. Das Ungarn des Galgenadmirals ist gegenwärtig das gelobte Land der Rückwärts-Radikalen Deutschlands und Deutsch-Österreichs. Der Überfall auf ein österreichisches Waffendepot hat gezeigt, daß sich die ungarischen Gewaltmenschen bereits kräftig genug fühlen, um Stoßtrupps über die Grenze zu senden.

Der Herr »Landeshauptmann« Escherich aber macht sich bereits in Deutsch-Österreich bemerkbar und hat sich, nach einer Innsbrucker Meldung, bereit erklärt, die dortigen Heimatwehren unter seine Leitung zu nehmen. Das ist das Gefährlichste. Ein blutiger Faden geht von diesem Horthy-Ungarn aus. Orgesch nimmt ihn auf und gibt ihn weiter an Lüttwitz-Deutschland.

Neue Schweizer Zeitung. 13. August 1920


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