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Sie können nicht mehr mit!

Wir haben heute keine Zensur mehr. Dafür aber einen Staatsanwalt und einen § 184. Und Sachverständige, die befähigt sind, im freien Vortrag, ohne zu stottern, die »grobe Unzüchtigkeit« eines Kunstwerkes nachzuweisen. Und weil wir einen Staatsanwalt haben und einen § 184 und diverse Sachverständige, deshalb ist die Kunst gegenwärtig ärgeren Anfechtungen ausgesetzt als in der Maienblüte der Zensur.

Der vornehme und geachtete Kunsthändler Fritz Gurlitt hat eine Kollektion herausgegeben, die »der Venuswagen« heißt; die Illustrationen zu den Texten älterer und moderner Dichter stammen von Künstlern wie Corinth, Christophe, Jäckel, Scheurich, Zille u.a. Die Auflagezahl war eng begrenzt. Es war keine Sache für die Öffentlichkeit, sondern eine reine Bibliophilenangelegenheit. Der erotische Einschlag wurde und wird nicht bestritten. Der erotische Einschlag aller Kunst wird heute überhaupt nur von ein paar Herren bestritten, die, weiß Gott warum, bei solchen Prozessen als Sachverständige der Staatsanwaltschaft zu fungieren pflegen.

Der Ephorus Brunner ist zur Genüge bekannt als derjenige, der den Marschallstab des künftigen Reichszensors im Tornister trägt. Diesmal hat er eine höchst kuriose Hilfstruppe erhalten in der Person des Herrn Professor Schlichting, Vorsitzendem des Vereins Berliner Künstler (!). Brunner stellte die kraftvolle These auf, daß nackte Kunst stets unanständig sei, wenn sie zur Vervielfältigung an einen Verleger weitergegeben werde. Und Kampfgenosse Schlichting meinte tiefsinnig, es käme nicht auf die Größe eines Künstlers an, sondern auf die Wirkung seines Werkes. Vergebens versuchten Reichskunstwart Dr. Redslob, Oberfilmzensor Dr. Karl Bulcke und der Dichter Bernhard Kellermann das Gericht eines bessern zu belehren. Gurlitt wurde verdonnert, und einige der Mappen verfielen der Beschlagnahme. Kein wirklich sachkundiges Argument konnte gegen das emsige Rauschen der Trauerweiden Brunner und Schlichting aufkommen. Das Gericht erkannte zwar einen gewissen Zwiespalt zwischen dem Urteil des Künstlers auf der einen und der Rechtsprechung auf der andern Seite an, sah auf der einen Seite von einer Gefängnisstrafe ab, bedauerte aber andererseits, daß das Gesetz nur eine Geldstrafe von 1000 Mark als Höchstmaß bestimmt habe. Im übrigen beklagte das Gericht, daß sich heute auf der Bühne, in der Frauentracht und im öffentlichen Leben so manches Anstößige breitmache.

Bravo, bravissimo! Ungemein richtig gesehen.

Krieg und Zusammenbruch haben ein ungeheuerliches Elend hinterlassen. Verarmung und Entwurzelung von hunderttausenden bürgerlichen Familien, das gräbt tiefe Furchen in das Antlitz einer Nation. Die Sittlichkeit von vorgestern ist ein sinkendes Schiff geworden, das jeder verläßt, der nicht verhungern will. Der reichgewordene Haifisch aber kann sich mehr Frauen leisten als früher am Monatsende Schnäpse besserer Qualität.

Das wissen wir alle und das weiß auch das Gericht. Und deshalb Handschellen her für die freie Kunst. Die hat schon immer für die andern büßen müssen. Trage sie die Verantwortung für die Demoralisation der Zeit.

Ein Wort von tiefer innerer Wahrheit aber hat nach einer Zuschrift im »Berliner Tageblatt« der Sachverständige Schlichting gesprochen. Jedesmal, wenn ihm messerscharfe Entrüstung den Faden seiner Rede durchschnitt, rief er entgeistert aus: »Da kann ich nicht mehr mit!«

Das stimmt vollkommen.

Sie wollen die Göttin der Schönheit in Gesundheitsflanell verpacken. Sie aber springt leichtfüßig in ihren Wagen und erhebt sich mit geflügelten Rossen in ihre himmlische Heimat, während das plumpe Fahrzeug von Brunner & Co. mit Achsenbruch am Wege liegen bleibt.

Berliner Volks-Zeitung. 30. Oktober 1921


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