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Die große Verstimmung
Frankreich und Italien

Die Italiener sind als Politiker temperamentvolle Leute, und wo sie ihre nationalen Interessen beeinträchtigt glauben, gibt es Scherben, die indessen nicht Glück bedeuten. In den letzten Tagen haben die Fascisten, die Hakenkreuzler Italiens, in verschiedenen großen Städten geräuschvoll vor den französischen Konsulaten demonstriert. Ohne Zweifel geschah solches nicht, um den unter diesem ewig heiteren Himmel wenig beschäftigten Glasermeistern ein wenig aufzuhelfen, sondern man hatte triftigere Gründe. Die Idee der Entente ist in Italien demoliert. Der österreichische Schreck existiert längst nicht mehr. Das bis an die Zähne bewaffnete Frankreich tritt immer mehr an dessen Stelle. Die studentischen Offensiven in Turin und Neapel beleuchten blitzlichtartig die Situation.

Bekanntlich ist Italien nicht ganz freiwillig in den Krieg eingetreten. Und so sehr auch eine offizielle Propaganda in Begeisterung machte, so blieb immer ein Rest schlechten Gewissens zurück. Italien hat ungeheuere Opfer gebracht, hat in Entlastungsoffensiven am Isonzo für die Verbündeten an der Somme und in Flandern schwer geblutet. Italien fühlt sich trotz wesentlichen territorialen Zuwachses nicht befriedigt. Es lebt seit Versailles in der peinigenden Vorstellung, die zweite Geige spielen zu müssen, und die Mißstimmung richtet sich in erster Linie gegen Frankreich, von dem es in der Adriafrage im Stich gelassen wurde.

Die aufgeregte Jungmannschaft des Fascismus vergaß deshalb die rote Gefahr des Bolschewismus und wandte ihre ganze beängstigende Aufmerksamkeit dem französischen Verbündeten zu. Vor kurzer Zeit entging in Venedig eine französische Delegation unter Führung des Generals Fayolle mit Mühe der Verprügelung. Seitdem kommt die französische Presse nicht mehr recht aus der Verlegenheit heraus, wie dieser Stimmungsumschwung zu bemänteln sei. Die faule Ausrede von der »deutschen Agitation« verfängt nicht mehr. Man kann die Apostel D'Annunzios unmöglich als von Deutschland gekauft hinstellen.

Nach einer Meldung des »Daily Telegraph« soll Herr Briand in Washington dem italienischen Delegierten Schanzer gegenüber eine unwirsche Bemerkung über die italienische Armee gemacht haben. Die Lesart der englischen Zeitung klang ziemlich unglaubwürdig, denn Briand ist ein Mann von erlesener Eloquenz, dem es stets gelingen wird, einen peinlichen Inhalt in eine wenigstens ästhetisch ansprechende Form zu kleiden. Trotz dieser durchaus selbstverständlichen Bedenken brannte der italienische Nationalismus augenblicklich lichterloh. Ungemein charakteristisch dafür, wie weit die antifranzösische Einstellung bereits gediehen.

Die Folge der turbulenten Auftritte von Turin ist, daß der französische Botschafter Barrère um Enthebung von seinem Posten gebeten hat. Der »Homme Libre«, das Blatt Clemenceaus, fügt dieser Mitteilung hinzu, daß Frankreich in Italien »verhöhnt und geschlagen worden sei, und daß es nicht einmal Genugtuung erhalten habe für den Randal von Venedig, wo Barrère und Fayolle nur mit geringer Not der körperlichen Mißhandlung entronnen sind; Barrère besitze keine Autorität mehr. Wenn der Botschafter auf seinem Entschluß besteht, so scheidet damit eine Persönlichkeit von Rom, die 1914 und 1915 der böse Engel des italienischen Volkes gewesen ist. Dieser Mann hat wie kein zweiter gegen die Neutralität Italiens gearbeitet und mit allen Mitteln die unwissenden Massen auf die Straße gehetzt, um gegen den Frieden zu demonstrieren. Es ist eine besondere Pikanterie des Schicksals, daß ihn heute die Stöcke der gleichen Nationalisten bedrohen, die einst seine gefügigen Instrumente waren. Wenn die Fascisten bisher nicht viel Gutes getan haben, die Ausräucherung dieses Ränkeschmiedes ist ohne Zweifel eine verdienstliche Tat.

Während Herr Barrère in Rom bittere Stunden durchlebt, geht auf anderem Schauplatze eine nicht weniger beachtenswerte Komödie vor sich. Pariser Blätter, wie der »Matin« und der »Intransigeant«, stellen fest, daß der Mann, der dem »Daily Telegraph« die Mitteilung von der erregten Äußerung Briands hat zugehen lassen, niemand anders war als der sehr bekannte Mitarbeiter des »Echo de Paris« – Herr Pertinax, ein mit allen Salben gesalbter Nationalist. Was den außerordentlich fingerfertigen Sensationsjournalisten zu diesem offenbaren Akt von Felonie veranlaßt hat, mögen die Götter wissen; vermutlich war er nur das Glied einer großen Verschwörung. Vielleicht bestand die Absicht, Italien erst in einen Erregungszustand zu versetzen, um dann sachte die Wut auf Deutschland abzuleiten. Bestand ein solcher Plan wirklich, dann ist der Effekt gründlich ins Gegenteil umgeschlagen. Italiens Empörung richtet sich ausschließlich gegen die französische Politik und Frankreich selbst steht heute desavouiert und isoliert da. Auf Briands große Rede folgte Curzons kalter Wasserstrahl, folgte Hardings Idee einer Hinzuziehung Deutschlands, folgte Englands neuerliche Initiative in der kleinasiatischen Angelegenheit. Und Herr Pertinax und seine Hintermänner haben es durch ihren »Geniestreich« zuwege gebracht, den letzten Rest von Sympathie, den Frankreich noch in Italien besaß, zu beseitigen. Mit hängenden Schnurrbartspitzen verläßt Herr Briand Amerika. Der Sommer des Siegertaumels ist zu Ende, der Winter des Mißvergnügens ist da.

Berliner Volks-Zeitung, 29. November 1921


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