Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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163.
Worte einer Sterbenden.

Dann sagte die Frau: Gott grüß' euch, ihr lieben, armen, so oft von uns gedrückten und gedrängten Leute! Lohn' es euch Gott, daß ihr euch meiner noch erbarmet, und jetzt, da ich euch nötig habe, zu mir kommt. Ich habe es nicht um euch verdient. Wenn ihr in Not und Elend zu mir kamet, so verschloß ich mein Herz vor eurem Jammer. Ich achtete den Hunger und Mangel, der aus euren Augen redete, wie nichts, und sah nur den Pfennig, der in eurer Hand war. Ich sparte den Tropfen im Glase, der euch gehörte; ich leerte das Maß nicht aus, in dem euer Mehl war; ich nahm den Rahm von der Milch, die ihr für eure Kinder kauftet. In Brot und Butter, in Wein und Fleisch gab ich euch nie das volle Maß und Gewicht, und zwang euch, von mir teurer zu kaufen, was euch andere wohlfeiler gegeben hätten. Um unsrer Sünde willen haben die Kinder des Dorfes ihre Eltern, die Dienste (das Gesinde) ihre Meister, die Weiber ihre Männer bestohlen, und den Raub in unser Haus gebracht. Darum sind wir elender geworden als alle Menschen. Viele von euch litten die Strafe des Diebstahls, und haben für uns gestohlen; viele litten den Unsegen ungehorsamer Kinder, und sind um unsertwillen ungehorsam geworden; viele verzweifelten, weil sie bei uns verführt worden sind. Söhne liefen aus dem Lande, weil wir sie zugrunde gerichtet haben, und Töchter sind unglücklich geworden, weil ihnen in unserm Hause Fallstricke gelegt worden sind.

Es ist noch viel mehr; aber ich kann es nicht aussprechen, und kann es nicht mehr ändern. Ich kann nichts mehr sagen als dieses: Nehmet ein Exempel, und bleibt um Gottes willen ein jedes, so viel es immer kann, bei Hause und bei den Seinigen. Fürchtet auch immer um Gottes willen, von irgend jemand nur um einen Heller zu kaufen, was ihr nicht geradehin zahlen könnet.

Hier hielt sie einen Augenblick inn; dann sagte sie wieder: Ich kann nichts mehr sagen als das: Um Gottes willen verzeihet mir! verzeihet meinem Manne! Ich bin jetzt wie eine arme Sünderin, die auf ihren Tod wartet. Ich bitte ein jedes um Gottes willen, auch noch ein gläubiges »Unser Vater« für mich zu beten. –

Mit diesem Worte wandte die Vögtin ihr Angesicht seitwärts, und sank ohnmächtig auf ihr Kissen.


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