Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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48.
Etwas von der Sünde.

Gertrud hatte das Gemurmel, das in den Weiberstühlen allgemein war: des Vogts Haus sei schon wieder voll von seinen Lumpen, auch gehört, und sagte es nach der Kirche dem Lienhard.

Dieser antwortete: Ich kann es doch fast nicht glauben – während der Kirche! an einem heiligen Tage!

Gertrud. Es ist freilich erschrecklich; aber die Verwicklungen eines gottlosen Lebens führen zu allem, auch zu dem Abscheulichsten.

Lienhard seufzt; Gertrud fährt fort: Ich erinnere mich, so lang ich lebe, an das Bild, das unser selige Pfarrer von der Sünde machte, da er uns das letzte Mal zum heiligen Nachtmahle vorbereitete. Er verglich sie mit einem See, der bei anhaltendem Regen nach und nach anschwillt. Das Steigen des Sees, sagte er, ist immer unmerklich; aber es nimmt doch alle Tage und alle Stunden zu. Der See wird immer höher und höher, und die Gefahr wird gleich groß, als wenn er plötzlich und mit Sturm so anschwellte. Darum geht der Vernünftige und Erfahrne im Anfange zu den Wehren und Dämmen, sie zu besichtigen, ob sie dem Ausbruch zu steuern in Ordnung sind. Der Unerfahrne, Unweise aber achtet das Steigen des Sees nicht, bis die Dämme zerrissen, bis Felder und Wiesen verwüstet sind, und bis die Sturmglocke dem Lande aufbietet, der Verheerung zu wehren. So, sagte er, sei es mit der Sünde und dem Verderben, das sie anrichte.

Ich bin noch nicht alt, aber ich habe es doch schon hundertmal erfahren, daß der redliche Seelsorger recht hatte, und daß ein jeder, der in irgend einer Sünde anhaltend fortwandelt, sein Herz so verhärtet, daß er das Steigen ihrer Greuel nicht mehr achtet, bis Verheerung und Entsetzen ihm aus dem Schlafe weckt.


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