Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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162.
Die Menschen sind so gerne gut, und werden so gerne gut.

Der Morgen ihres Todestages war nun da. Sie erwachte nach einem erquickenden Schlummer, und sah staunend aus ihrem Bette die Sonne, die ihr nun zum letztenmal auf dieser Welt aufging. Jenseit des Grabes wartet meiner eine bessere Sonne, war der Gedanke, den sie bei diesem Anblicke hatte.

Gertrud war vor ihrem Erwachen schon bei ihr, und erquickte ihr jeden Augenblick die Leiden ihres schmerzhaften Lagers. Bald trocknete sie ihr den Schweiß von der Stirne, bald legte sie ihre Kopfkissen zurecht; bald kehrte sie sie auf die linke bald auf die rechte Seite. Sie reinigte die Luft ihrer Stube mit Essig, und stellte alle Stühle und Bänke, die im Hause waren, den Armen, die nun kommen sollten, zurecht. Als sie einst die Sterbende so sanft umkehrte, sagte diese: Die Hand des Gottlosen ist überall hart; und ohne dein Herz, Frau, könntest du mich gewiß nicht umkehren, daß es mir so wenig wehe täte. Bald darauf sagte sie wieder: Ich spüre auch hierin, was mir in meinem ganzen Leben gefehlt hat.

Als der Pfarrer mit dem Treufaug kam, winkte er der Gertrud. Diese erschrak, als sie den Doktor erblickte, und keines wünschte dem andern einen guten Tag. Auf ihrer Zunge waren die Worte: Was will jetzt dieser noch Unruhe machen?

Der Pfarrer las auf ihren Lippen, was sie sagen wollte, und sagte, sie bei der Hand nehmend: Wir wollen euch nicht Unruhe machen.

Es macht der Frau gewiß Unruhe, wenn er in diesem Augenblicke kommt, da sie die Armen erwartet, erwiderte die Gertrud hastig.

Er will nur in der Kammer zusehen, wenn die Armen kommen, erwiderte der Pfarrer; und Gertrud führte ihn nun liebreich dahin.

Jetzt schlug es acht Uhr, und die Armen waren da. Sie hatten einander vor dem Hause gewartet, damit nicht eines nach dem andern bei der Kranken die Türe auf und zu tun müsse.

Der Pfarrer ging dann zu ihnen hinaus, grüßte sie alle herzlich, dankte ihnen, daß sie der Frau noch diese Liebe erwiesen, und bat sie dann alle, so still als möglich zu sein, wenn sie in die Stube hineinkämen.

Die meisten Armen, Männer und Weiber, zogen auf offener Straße die Schuhe ab, trugen sie in den Händen hinein, und gingen fast auf den Zehen, um kein Geräusch zu machen. Es waren ihrer über die vierzig Personen, Männer, Weiber und Kinder.

Die Vögtin sah eines nach dem andern steif an, als sie herein kamen, und bewegte gegen ein jedes ihr sterbendes Haupt. Die Armen erwiderten ihr den Gruß alle mit freundlichem Nicken, und hatten meistens Tränen in den Augen; aber keines redete ein Wort. Die Hoorlacherin sah aus wie der Tod.

Die Vögtin sah sie, zwei Kinder, die vom Hunger und Mangel zeugten, auf ihren Armen, und ihre zerrissenen Schuhe in der Hand, vor ihr stehen, und gebeugt aber geduldig nach ihr hinblicken, und dann ihr Auge gen Himmel erheben. Sie zitterte bei diesem Anblicke, und nahm ihren Mann bei der Hand; und dieser verhüllte sein Angesicht in die Decke ihres Bettes. Doch sie erholte sich wieder. Sie hatte, seitdem sie erwacht war, und vorher die ganze Nacht fast keinen andern Gedanken gehabt, als was sie diesen Unglücklichen noch sagen wolle und sagen müsse.

Sie bat sie jetzt sich zu setzen, und jedes suchte still das nächste Plätzchen, und Männer und Weiber nahmen die Kinder auf den Schoß.


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