Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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13.
Beweis, daß Gertrud ihrem Manne lieb war.

Gertrud setzte sich neben Lienhard, indem sie einen Strumpf zum Stricken in die Hand nahm, und Lienhard sagte hierauf zu ihr: Wenn du dich so setzest wie am Sonntag Abend zu deiner Bibel, so werde ich dir wohl erzählen müssen.

Gertrud. Alles, alles, du Lieber, mußt du mir erzählen.

Lienhard. Ja, ich werde jetzt noch so alles wissen! Aber aha, mein Trutscheli! es ist Samstag, du hast nicht so gar lang Zeit.

Gertrud lacht: Tu deine Augen auf! Lienhard sieht sich um: Aha bist du schon fertig?

Lise (zwischenein). Sie hat recht geeilt, Vater. Ich und Enne halfen ihr aufräumen. Ist das nicht recht?

Wohl, es ist mehr als recht, antwortete der Vater. Aber fange jetzt einmal an zu erzählen, sagte Gertrud.

Und Lienhard: Arner fragte sogar nach meines Vaters Namen, nach der Gasse, wo ich wohne, und nach der Nummer meines Hauses.

Gertrud. O du erzählst nicht recht, Lienhard; ich weiß, er hat nicht so angefangen.

Lienhard. Warum nicht, du Schnabel? wie denn anders?

Gertrud. Du hast ihn zuerst gegrüßt, und er hat dann gedankt. Wie habt ihr das gemacht?

Lienhard. Du Hexli! du hast doch recht; ich habe nicht von vorne angefangen.

Gertrud. Gelt Lieni?

Lienhard. Nun, er fragte mich, so bald er mich sah, ob ich ihn nicht mehr fürchte. Ich bückte mich so tief und so gut ich konnte, und sagte: Verzeiht mir, gnädiger Herr! Er lachte, und ließ mir gleich einen Krug Wein vorsetzen.

Gertrud. Nun, das ist doch wirklich ein ganz anderer Anfang. Warst du fein bald fertig mit dem Krug? Ohne Zweifel!

Lienhard. Nein, Frau; ich tat so züchtig wie eine Braut, und ich wollte ihn nicht anrühren; aber er verstand es anders. Ich weiß wohl, daß du den Wein auch kennst; schenk dir nur ein, sagte er. Ich tat es, aber sachte, und trank auf sein Wohlsein. Aber er sah mich so steif an, daß mir das Glas am Munde zitterte.

Gertrud. Das gute Gewissen, Leni! das kam dir jetzt eben in die Finger. Aber du hast dich vom Schrecken doch wieder erholt?

Lienhard. Ja, und das recht bald. Er war gar liebreich, und sagte: Es ist ganz natürlich, daß ein Mann, der stark arbeitet, gerne ein Glas Wein trinkt; es ist ihm auch wohl zu gönnen. Aber das ist ein Unglück, wenn einer, anstatt sich mit einem Glas Wein zu erquicken, beim Wein ein Narr wird, und nicht mehr an Weib und Kind denkt und an seine alten Tage. Das ist ein Unglück, Lienhard! Frau, es ging mir ein Stich ins Herz, als er das sagte; doch faßte ich mich und antwortete: Ich sei in so unglückliche Umstände verwickelt gewesen, daß ich mir in Gottes Namen nicht mehr zu helfen gewußt hätte, und ich hätte – weiß Gott – in der Zeit kein Glas Wein mit freudigem Herzen getrunken.

Gertrud. Hast du doch das herausbringen können?

Lienhard. Wenn er nicht so liebreich gewesen wäre, so hätte ich es gewiß nicht gekonnt.

Gertrud. Was sagte er noch weiter?

Lienhard. Es sei ein Unglück, daß die meisten Armen in ihrer Not mit Leuten anbänden, die sie fliehen sollten wie die Pest. – Ich mußte jetzt einmal seufzen. Ich glaube, er merkte es; denn er fuhr mitleidig fort: »Wenn man es den guten Leuten nur auch beibringen könnte, ehe sie es mit ihrem Schaden lernen! Der Arme ist halb errettet, wenn er nur keinem Blutsauger unter die Hände fällt.« – Bald hernach fing er wieder an, und sagte: »Es geht mir ans Herz, wenn ich denke, wie viele Arme sich oft im abscheulichsten Elend aufzehren, und nicht den Verstand und das Herz haben, ihre Umstände an einem Ort zu entdecken, wo man ihnen herzlich gerne helfen würde, wenn man nur recht wüßte, wie sich die Sachen verhalten. Es ist vor Gott nicht zu verantworten, wie du dich Jahr und Tag vom Vogt hast herumschleppen lassen, und wie du Weib und Kind so in Unruhe und Gefahr setzen konntest, ohne auch nur ein einziges Mal mich um Rat und Hilfe zu bitten, Maurer, denke nur auch, wenn deine Frau nicht mehr Herz und Verstand gehabt hätte als du, wo es am Ende mit deinen Sachen hinausgelaufen wäre.«

Gertrud. Das alles hat er gesagt, ehe er der Hausnummer nachgefragt hat?

Lienhard. Du hörest es jawohl.

Gertrud. Du hast mir es mit Fleiß nicht sagen wollen, du –!

Lienhard. Es wäre, denk' ich, wohl das gescheiteste gewesen; du wirst mir sonst noch gar zu stolz, daß du so viel Herz gehabt hast.

Gertrud. Meinst du, Hausmeister? Ja, ja, einmal auf diesen Streich werde ich mir etwas einbilden, so lange ich lebe, und so lange es uns wohl tun wird. Aber was sagte Arner noch weiter?

Lienhard. Er nahm mich wegen dem Bau ins Examen. Es war gut, daß ich noch nicht alles vergessen hatte. Ich mußte ihm alles beim Klafter ausrechnen, und die Fuhren von Kalk und Sand aufs Pünktchen ausspitzen.

Gertrud. Bist du um keine Null verirrt im Rechnen?

Lienhard. Nein, diesmal nicht, du Liebe.

Gertrud. Gottlob!

Lienhard. Jawohl gottlob!

Gertrud. Ist jetzt alles in Ordnung?

Lienhard. Ja, recht schön ist es in der Ordnung. Rate, wie viel hat er mir vorgeschossen? (Er klingelt mit den Talern im Sack, und sagt:) Gelt, es ist zu lang, daß ich nicht so geklingelt habe? Gertrud seufzt.

Lienhard. Seufze du jetzt nicht, du Liebe! Wir wollen hausen und sparen, und wir werden jetzt gewiß nicht mehr in die alte Not kommen.

Gertrud. Ja, Gott im Himmel hat uns geholfen.

Lienhard. Und noch mehr Leuten im Dorf mit uns. Denke, er hat zehn arme Hausväter, die gewiß alle sehr in der Not sind, zu Tagelöhnern bei diesem Bau angenommen; und er gibt jedem des Tages 25 Kreuzer. Du Liebe! du hättest sehen sollen, mit was für Sorgfalt er die Leute ausgewählt hat.

Gertrud. O sage mir doch das recht.

Lienhard. Ja, wenn ich es jetzt noch so wüßte.

Gertrud. Besinne dich ein wenig.

Lienhard. Nun denn! Er fragte allen armen Hausvätern nach, wie viel Kinder sie hätten, wie groß sie wären, was für Verdienst und Hilfe sie hätten; dann suchte er die verdienstlosesten und die, welche am meisten unerzogene Kinder hatten, heraus, und sagte zweimal zu mir: Wenn du jemanden kennest, der wie du im Drucke ist, so sage es mir. Ich nannte vor allen den Hübel-Rudi; und der hat jetzt für ein Jahr gewiß Verdienst.

Gertrud. Es ist brav, daß du den Rudi deine Erdäpfel nicht hast entgelten lassen.

Lienhard. Ich könnte keinem Armen etwas nachtragen, Frau; und diese Haushaltung ist erschrecklich elend. Ich habe den Rudi erst vor ein paar Tagen wieder bei der Grube angetroffen, und ich tat, als ob ich ihn nicht sehe. Es ging mir ins Herz; er sieht aus wie Teurung und Hunger, und wir hatten doch in Gottes Namen zuletzt noch immer zu essen.

Gertrud. Das ist wohl gut, du Lieber; aber das Stehlen hilft nicht im Elend, und der Arme, der es tut, kömmt dadurch nur doppelt in die Not.

Lienhard. Freilich; aber beim nagenden Hunger Eßwaren vor sich zu sehen, und wissen, wie viel davon in den Gruben verfaulen muß, und wie selber alles Vieh davon genug hat, und sie dann doch liegen lassen und sie nicht anrühren – o Liebe! wie viel braucht es dazu?

Gertrud. Es ist gewiß schwer, aber ebenso gewiß muß der Arme es können, oder er ist unausweichlich höchst unglücklich.

Lienhard. O Liebe! wer würde in seinem Falle es tun? Wer will es von ihm fordern?

Gertrud. Gott, der es von dem Armen fordert, gibt ihm Kraft, es zu tun, und bildet ihn durch den Zwang, durch die Not und durch die vielen Leiden seiner Umstände zu der großen Ueberwindung, zu der er aufgefordert ist. Glaube mir, Lienert, Gott hilft dem Armen so im Verborgenen, und gibt ihm Stärke und Verstand zu tragen, zu leiden und auszuhalten, was fast unglaublich scheint. Wenn's dann durchgestritten, wenn das gute Gewissen bewahrt ist, Lienert, dann ist ihm himmelwohl, viel besser als allen, welche nicht Anlaß hatten, so viel zu überwinden.

Lienhard. Ich weiß es, Gertrud, an dir weiß ich es; ich bin auch nicht blind. Ich sah es oft, wie du in der größten Not auf Gott trautest, und zufrieden warst; aber wenige Menschen sind im Elend wie du, und viele sind wie ich, bei dem Drange der Not und des Elends sehr schwach. Darum denke ich immer, man sollte mehr tun, um allen Armen Arbeit und Brot zu verschaffen; ich glaube, sie würden dann alle auch besser sein, als sie jetzt in der Verwirrung ihrer Not und ihres vielen Jammers sind.

Gertrud. O Lieber! das ist bei weitem nicht so. Wenn es nichts als Arbeit und Verdienst brauchte, die Armen glücklich zu machen, so würde bald geholfen sein; aber das ist nicht so. Bei Reichen und bei Armen muß das Herz in Ordnung sein, wenn sie glücklich sein sollen; und zu diesem Zwecke kommen die weit mehreren Menschen eher durch Not und Sorgen als durch Ruhe und Freuden. Gott würde uns sonst wohl gerne lauter Freuden gönnen. Da aber die Menschen Glück und Ruhe und Freuden nur alsdann ertragen können, wenn ihr Herz zu vielen Ueberwindungen gebildet, standhaft, stark, geduldig und weise ist; so ist offenbar notwendig, daß viel Elend und Not in der Welt sein muß. Denn ohne das kömmt bei wenigen Menschen das Herz in Ordnung und zu innerer Ruhe, und wo das mangelt, ist es gleichviel, der Mensch mag Arbeit haben oder nicht, er mag Ueberfluß haben oder nicht. Der reiche, alte Meier hat, was er will, und steckt alle Tage im Wirtshause; dabei ist er aber nicht glücklicher als der arme Wächter, der es nicht hat, und der, obgleich er auch alle Tage dürstet, dennoch nur dann und wann ein Glas Wein in seinem Winkel findet.

Lienhard seufzte, und Gertrud schwieg auch eine Weile. Dann sagte sie: Hast du auch nachgesehen, ob die Gesellen arbeiten? Ich muß dir sagen: der Joseph ist heute wieder ins Wirtshaus geschlichen.

Lienhard. Das ist verdrießlich. Gewiß hat ihn der Vogt kommen lassen; er hat sich eben gar sonderbar aufgeführt. Ich bin, ehe ich heimkam, bei ihnen auf der Arbeit gewesen; und wenn er eben aus dem Wirtshaus gekommen ist, so macht mir das, was er gesagt hat, Unruhe, und es ist dann nicht aus seinem Hafen.

Gertrud. Was ist es denn?

Lienhard. Er sagte: Der Stein aus dem Schwendibruch wäre so vortrefflich zur Kirchenmauer. Und da ich ihm antwortete: Die großen Feldkiesel, die in Menge da herum liegen, seien viel besser, sagte er: ich wolle immer ein Narr bleiben, und meine Sachen nie recht anstellen. Die Mauer werde von den Schwendisteinen viel schöner und ansehnlicher werden. Ich dachte eben, er sage das so aus guter Meinung; doch hat er so plötzlich von dem Stein angefangen, daß es mich schon da sonderbar dünkte. Und wenn er beim Vogt gewesen ist, so steckt gewiß etwas dahinter. Der Schwendistein ist mürbe und sandig, und zu dieser Arbeit gar nichts nütze. Wenn das eine Fuchsfalle wäre?

Gertrud. Joseph ist nicht durch und durch gut; nimm dich in acht!

Lienhard. Da fangen sie mich nicht. Der Junker will keine Sandsteine an der Mauer haben.

Gertrud. Warum das?

Lienhard. Er sagte, weil unten an der Mauer Miststätten und Abläufe von Ställen seien, so würde der Sandstein faulen und vom Salpeter angefressen werden.

Gertrud. Ist das wahr?

Lienhard. Ja. Ich habe selbst einmal in der Fremde an einem Gebäude gearbeitet, da man das ganze Fundament, das von Sandsteinen war, wieder hat wegnehmen müssen.

Gertrud. Daß er das so versteht!

Lienhard. Ich verwundere mich selber; aber er versteht es vollkommen. Er fragte mich auch, wo der beste Sand sei, und ich antwortete: im Schachen bei der untern Mühle. Das ist sehr weit zu führen und bergan, antwortete er. Man muß Leute und Vieh schonen. Weißt du keinen, der näher wäre? Ich sagte, es sei gerade oben an der Kirche sehr reiner Sand im Mattenbühl; aber es sei eigentümliches Land. Man müßte die Grube zahlen, und könnte nicht anders als durch Matten fahren, wo man einen Abtrag würde tun müssen. Das schadet nichts; es ist besser als Sand aus dem Schachen herauf holen. Ja, ich muß dir noch etwas erzählen. Eben da er vom Sand redete, meldete der Knecht den Junker von Oberhofen. Ich glaubte, ich müßte jetzt sagen, ich wollte ihn nicht aufhalten und ein andermal kommen; aber er lachte und sagte: Nein, Maurer! ich mache gern eine Arbeit aus; und erst, wenn ich fertig bin, sehe ich, wer weiter etwas mit mir wolle. Du kommst mir eben recht mit deinem »Abschied nehmen;« es gehört zu deiner alten Ordnung, so liederlich bei jedem Anlaß Geschäfte und Arbeit liegen zu lassen; und diese muß aufhören. Ich kratzte hinter den Ohren, Frau, und dachte bei mir selber: »Hätte ich nur auch mit meinem ›Einandermal kommen‹ geschwiegen!«

Es hat dir auch etwas gehört, sagte Gertrud; und eben rief jemand vor der Türe: Holaho! Ist niemand daheim?


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