Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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37.
Sie bringen einem armen Mann eine Erbsenbrühe.

Lienhard. Ist sie endlich ihres Elends los?

Gertrud. Ja gottlob; aber du hättest sie sollen sterben sehen, mein Lieber. Denk', sie entdeckte an ihrem Todestag, daß ihr Rudeli uns Erdäpfel gestohlen. Der Vater und der Knabe mußten zu mir kommen, und um Verzeihung bitten. Sie ließ uns ausdrücklich in ihrem Namen bitten, wir sollten es ihr verzeihen, daß sie die Erdäpfel nicht zurückgeben könne, und der gute Rudi versprach so herzlich, daß er sie dir abverdienen wolle. Denke, mein Lieber, wie mir bei allem dem war! Ich lief zu der Sterbenden; aber ich kann es dir nicht erzählen, es ist nicht auszusprechen, mit welcher Wehmut, wie innig betrübt sie mich noch einmal fragte, ob ich es ihnen verziehen habe; und da sie sah, daß mein Herz gerührt war, empfahl sie mir ihre Kinder. Wie sie das fast nicht tun und fast nicht wagen durfte; wie sie es bis auf den letzten Augenblick versparte, und dann, da sie empfand, daß sie eilen müsse, endlich es wagte; wie sie eine Demut und Liebe gegen die Ihrigen zeigte, und wie sie, mitten indem sie es tat, auf immer entschlief: das ist nicht auszusprechen und nicht zu erzählen!

Lienhard. Ich will mit dir zu ihnen gehen.

Gertrud. Ja, komm, wir wollen gehen.

Sie nimmt ihre Erbsenbrühe, und sie gehen.

Da sie kamen, saß der Rudi neben der Toten auf ihrem Bett, weinte und seufzte, und der Kleine rief dem Vater aus seiner Kammer, und bat ihn um Brot – nein, nicht um Brot, um rohe Wurzeln nur, oder was es wäre. Ach, ich habe nichts, gar nichts. Um Gottes willen, schweige doch bis morgen! Ich habe nichts, sagte ihm der Vater. Und der Kleine: O wie mich hungert, Vater! ich kann nicht schlafen. O wie mich hungert, Vater!

O wie mich hungert! hören ihn Lienhard und Gertrud rufen, öffnen die Türe, stellen das Essen den Hungrigen dar, und sagen zu ihnen: Esset doch geschwind, eh' es kalt ist.

O Gott, sagte der Rudi, was ihr an mir tut! Rudeli, das sind die Leute, denen du Erdäpfel gestohlen hast, und wovon ich auch gegessen habe.

Gertrud. Schweige doch einmal hievon, Rudi.

Rudi. Ich darf euch nicht ansehen, so geht es mir ans Herz, daß wir euch das haben tun dürfen.

Lienhard. Iß doch jetzt, Rudi.

Rudeli. Iß doch, Vater; wir wollen doch essen, Vater.

Rudi. So bete denn.

Rudeli. Speis', Gott, tröst', Gott, alle armen Kind', die auf Erden sind, an Seel' und Leib. Amen!

So betete der Knabe, nimmt den Löffel, zittert, weint und ißt. So vergelt' es euch Gott zu tausend Malen! sagt der Vater, ißt auch, und Tränen fallen über seine Wangen in seine Speise.

Sie aßen aber das Essen nicht auf, sondern stellten ein Plättlein voll beiseits für die Kinder, welche schliefen; dann betete der Rudeli ab Tisch: Wer gegessen hat, Gott danken soll, der uns gespeist hat abermal. Ihm sei Lob, Preis und Dank gesagt von nun an bis in Ewigkeit. Amen!

Als nun der Rudi ihnen noch einmal danken wollte, entfuhr ihm ein Seufzer.


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