Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

49.
Kindercharakter und Kinderlehren.

Unter diesen Gesprächen kamen sie aus der Kirche wieder in ihre Hütte, und die Kinder alle liefen dem Vater und der Mutter die Stiege hinunter entgegen, riefen und baten, sobald sie sie sahen: Wir wollen doch geschwind wiederholen, was wir diese Woche gelernt haben. Komm doch geschwind, Mutter, daß wir bald fertig werden.

Gertrud. Warum so eifrig heute, ihr Lieben? warum tut es so not?

Kinder. Ja wir dürfen dann, Mutter, wenn wir es können, mit dem Abendbrot – gelt, Mutter, wir dürfen? Du hast es uns gestern versprochen.

Mutter. Ich will gerne sehen, wie ihr das könnet, was ihr gelernt habet.

Kinder. Aber, Mutter, wir dürfen dann?

Mutter. Ja, wenn ihr fertig sein werdet.

Die Kinder freuten sich herzlich, und wiederholten, was sie in der Woche gelernt hatten, geschwind und gut. Da gab die Mutter ihnen ihr Abendbrot und zwei Schüsseln Milch, von der sie, weil es Festtag war, den Rahm nicht abgenommen hatte. Sie nahm jetzt auch das Gritteli an ihre Brust, und hörte mit Herzensfreude zu, wie die Kinder während des Essens einander erzählten, wem sie ihr Abendbrot geben wollten. Keines aß einen Mundvoll von seinem Brot; keines tat ein Bröcklein davon in die Milch, und jedes freute sich über sein Brot, zeigte es dem andern, und jedes wollte, sein Stück sei das größte. Jetzt waren sie fertig mit ihrer Milch, das Brot lag noch neben der Mutter. Niklas schlich zu ihr hin, nahm ihr die Hand, und sagte: Du gibst mir doch auch noch einen Mundvoll Brot für mich, Mutter?

Mutter. Du hast ja schon, Niklas.

Niklas. Ich muß es ja dem Rudeli geben.

Mutter. Ich habe dir es nicht befohlen; du darfst es essen, wenn du willst.

Niklas. Nein, ich will es nicht essen; aber du gilbst mir doch einen Mundvoll?

Mutter. Nein, gewiß nicht.

Niklas. Ei, warum nicht?

Mutter. Damit du nicht meinest, man müsse erst, wenn man den Bauch voll hat, und nichts mehr mag, an die Armen denken.

Niklas. Ist es darum, Mutter?

Mutter. Aber gibst du es ihm jetzt doch ganz?

Niklas. Ja Mutter, gewiß, gewiß. Ich weiß, er hungert entsetzlich, und wir essen um sechs Uhr zu Nacht.

Mutter. Und, Niklas, ich denke, er bekomme dann auch nichts.

Niklas. Ja, weiß Gott, Mutter, er bekömmt gewiß nichts zu Nacht.

Mutter. Ja, das Elend der Armen ist groß, und man muß grausam und hart sein, wenn man das, was man kann, nicht gerne an sich selbst und an seinem eigenen Munde erspart, um ihnen dafür ihre große Not zu erleichtern.

Tränen stehen dem Niklas in den Augen. Die Mutter frägt sodann auch noch die andern Kinder.

Mutter. Lise, gibst du das deine auch ganz weg?

Lise. Ja gewiß, Mutter.

Mutter. Und du, Enne, du auch?

Enne. Ja freilich, Mutter.

Mutter. Und du auch, Jonas?

Jonas. Das denke ich, Mutter.

Mutter. Nun das ist brav, Kinder; aber wie wollet ihr es jetzt auch anstellen? Es hat alles so seine Ordnung, und wenn man es noch so gut meint, so kann man etwas doch unrecht anstellen. Niklas, wie willst du es machen mit dem Brot?

Niklas. Ich will laufen, was ich vermag, und ihm rufen, dem Rudeli. Ich stecke es nur nicht in den Sack, damit er es geschwind kriege. Laß mich doch jetzt gehen, Mutter.

Mutter. Warte noch ein wenig, Niklas. Und du Lise, wie willst du es machen?

Lise. Ich will es nicht so machen, wie der Niklas. Ich winke dem Betheli in eine Ecke; ich verstecke das Brot da unter meine Schürze, und gebe es ihm, daß es niemand siehet, nicht einmal sein Vater.

Mutter. Und du, Enne, wie willst du es machen?

Enne. Weiß ich es, wie ich den Heireli antreffen werde? Ich werde es ihm geben, wie es mir kommen wird.

Mutter. Und du, Jonas, du kleiner Schelm, du hast Tücke im Sinn; wie willst du es machen?

Jonas. In den Mund stecke ich ihm mein Brot, Mutter, wie du mir es machst, wenn du lustig bist. Den Mund auf und die Augen zu! sage ich ihm; dann lege ich es ihm zwischen die Zähne. Es wird lachen; gelt, Mutter, es wird lachen?

Mutter. Das ist alles recht, Kinder; aber ich muß euch doch etwas sagen. Ihr müsset das Brot den Kindern still und allein geben, daß es niemand sehe, damit man nicht meine, ihr wollet groß tun.

Niklas. Potztausend, Mutter! so muß ich mein Brot auch in den Sack tun?

Mutter. Das versteht sich, Niklas.

Lise. Ich habe mir das wohl eingebildet, Mutter, und sagte es vorher, ich wollte es nicht so machen.

Mutter. Du bist immer das allerwitzigste, Lise. Ich habe nur vergessen, dich dafür zu rühmen; du tust also recht wohl, daß du mich selbst daran erinnerst.

Lise errötete und schwieg, und die Mutter sagte zu den Kindern: Ihr könnet jetzt gehen, aber denket an das, was ich euch gesagt habe.

Die Kinder gehen. Niklas läuft und springt, was er vermag, zu des Rudis Hütte hinunter; aber dieser ist nicht auf der Gasse. Niklas hustet, räuspert sich, ruft, aber vergebens; er kömmt nicht herunter und nicht ans Fenster. Da sagte er zu sich selber: Was soll ich jetzt machen? Gehe ich zu ihm in die Stube? Ich sollte es ihm aber allein geben. Ich will doch hineingehen und ihm nur sagen, er soll herauskommen auf die Gasse.

Der Rudeli saß eben mit seinem Vater und seinen Geschwistern bei dem offnen Sarge der lieben gestorbenen Großmutter, die man in ein paar Stunden begraben sollte, und der Vater und die Kinder redeten alle mit Tränen von der großen Treue und Liebe, die die Verstorbene ihnen im Leben erzeigt hatte. Sie weinten über ihren letzten Kummer wegen der Erdäpfel, und versprachen vor dem offnen Sarge dem lieben Gott im Himmel, in keiner Not, auch wenn sie noch so sehr hungern würden, irgend einem Menschen mehr etwas zu stehlen.

Eben jetzt öffnet Niklas die Türe, sieht die Gestorbene, erschrickt, und läuft wieder aus der Stube. Der Rudi aber, der ihn sieht, denkt, der Lienhard wollte ihm etwas sagen lassen, läuft dem Knaben nach, und fragt ihn, was er wolle. Nichts, nichts, antwortete Niklas, nur zu dem Rudeli habe ich gehen wollen; aber er betet jetzt.

Rudi. Das macht nichts, wenn du zu ihm willst.

Niklas. Laß ihn doch nur ein wenig zu mir auf die Gasse.

Rudi. Es ist ja so kalt, und er geht nicht gerne von der Großmutter weg. Komm doch zu ihm in die Stube.

Niklas. Ich mag nicht hinein, Rudi; laß ihn doch nur einen Augenblick zu mir herauskommen.

Ich mag es wohl leiden, antwortete der Rudi, und geht zurück nach der Stube. Niklas geht ihm nach bis an die Türe, und ruft dem Rudeli: Komm doch einen Augenblick zu mir heraus!

Rudeli. Ich mag jetzt nicht auf die Gasse, Niklas. Ich bin jetzt lieber bei der Großmutter; man nimmt sie mir bald weg.

Niklas. Komm doch nur einen Augenblick.

Rudi. Geh' doch, und sieh, was er will.

Der Rudeli geht hinaus; der Niklas nimmt ihn bei dem Arm, und sagt: Komm, ich muß dir etwas sagen, führt ihn in eine Ecke, steckt ihm sein Brot geschwind in den Sack, und läuft davon. Der Rudeli dankt, und ruft ihm nach: Danke doch auch deinem Vater und deiner Mutter. Niklas kehrt sich um, deutet ihm mit den Händen, daß er doch schweige, und sagt: Es muß es niemand wissen; und läuft wie ein Pfeil davon.


 << zurück weiter >>