Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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70.
Ein Mann, der ein Schelm ist und ein Dieb, handelt edelmütig, und des Maurers Frau ist weise.

Michel, als einer der Stärksten und Verständigsten, war den ganzen Abend an der Seite des Meisters, und sah alle die herzliche Liebe und Güte, mit der dieser auch gegen die Ungeschicktesten handelte, und Michel, der ein Schelm ist und ein Dieb, gewann den Lienhard dieses geraden, redlichen Wesens wegen lieb, und es ging ihm ans Herz. Gegen diesen braven, rechtschaffenen Mann wollte er kein Schelm sein.

Aber dem Kriecher und dem frommen Marx ab der Reuti gefiel es schon nicht so wohl, daß er keinen Unterschied machte unter den Leuten, und sogar auch mit dem Bösewicht, dem Michel, so freundlich war. Auch Lenk schüttelte den Kopf wohl hundertmal, und sprach bei sich selbst: Er ist ein Narr; nähme er Leute, die arbeiten können wie ich und mein Bruder, er würde nicht halb so viele Mühe haben. Aber die mehreren, die er mit Liebe und Geduld zur Arbeit anführte, dankten ihm von Herzensgrund, und hie und da stiegen stille Seufzer zum Vater der Menschen empor, der alle Geduld und alle Liebe, die ein Mensch seinem schwächern Bruder erweiset, lohnet und segnet. Michel konnte die böse Abrede, die er am Samstag mit dem Vogte gemacht hatte, nicht länger auf seinem Herzen tragen, und sagte im Heimgehen zu seinem Meister: Ich habe dir etwas zu sagen; ich will mit dir heimgehen.

So komm denn, antwortete Lienhard. Da ging er mit dem Meister in seine Hütte, und erzählte ihm, wie der Vogt ihn am Samstage zu Schelmenstreichen gedungen, und wie er ihm auf den schönen Handel zwei Taler gegeben habe. Lienhard erschrak; aber schwarz und grün war es der Gertrud. Das ist erschrecklich! sagte Lienhard.

Gertrud. Ja, das ist wohl erschrecklich!

Michel. Laß dich jetzt das nicht kümmern; ich bitte dich, Gertrud. Laß dir das jetzt keine Mühe machen; ich bitte dich, Meister. Seht, gegen Euch versündige ich mich gewiß nicht; darauf könnt Ihr zählen.

Lienhard. Ich danke dir, Michel; aber ich habe es doch an dem Vogte gewiß nicht verdient.

Michel. Er ist ein eingefleischter Teufel. Die Hölle erfindet nicht was er, wenn er auf Rache denkt, und raset.

Lienhard. Es zittert alles an mir.

Gertrud. Beinahe sinke ich in Ohnmacht.

Michel. Seid doch nicht Kinder; alles hat ja ein Ende.

Gertrud und Lienhard (beide zugleich). Gottlob! Gottlob!

Michel. Seht, ihr habt jetzt das Ding, wie ihr nur wollet. Wenn ihr es für gut findet, so will ich den Vogt auf dem Glauben lassen, daß ich ihm treu sei, und gerade morgen oder übermorgen vom Bau Geschirr wegnehmen, und in des Vogts Haus tragen. Dann gehst du in aller Stille zu Arner, nimmst einen Gewaltsschein, alle Häuser durchsuchen zu dürfen, fängst bei des Vogts Wohnung an, dringst plötzlich in die Nebenkammer hinein, wo du es gewiß finden wirst. Wenn du dich aber hiezu entschließest, so mußt du plötzlich, in dem Augenblicke, indem du den Gewaltsschein zeigest, hineindringen; sonst ist es gefehlt. Sie sind imstande, und nehmen es dir unter den Augen weg, steigen zum Fenster hinein, oder legen es unter die Decke des Bettes. Wenn du dann höflich bist, und da nicht nachsuchest, so werden wir in einem schönen Handel sein. Ich denke aber fast, es sei besser für dich, du schickest einen andern; es ist kein Stück Arbeit für dich.

Lienhard. Nein, Michel, das Stück Arbeit würde mir gewiß nicht geraten.

Michel. Das ist gleichviel; ich will dir schon jemanden finden, der diese Arbeit recht macht.

Gertrud. Michel, ich denke, wir sollten Gott danken, daß wir von der Gefahr, die über uns schwebte, befreit sind, und nicht aus Rache dafür dem Vogte eine Falle legen.

Michel. Er verdient seinen Lohn. Mache dir darüber kein Bedenken.

Gertrud. Was er verdiene oder nicht verdiene, das zu beurteilen ist nicht unsere Sache; aber keine Rache auszuüben, das ist unsere Sache, und der einzige gerade Weg, den wir in diesem Falle gehen können.

Michel. Ich muß bekennen, du hast recht, Gertrud; und es ist viel, daß du dich so überwinden kannst. Aber ja, du hast recht, er wird seinen Lohn schon finden, und überall los sein und nichts mit ihm zu tun haben, ist das beste. Ich will auch geradezu mit ihm abbrechen, und ihm seine zwei Taler zurückgeben. Jetzt aber habe ich nur noch anderthalben. (Er nimmt sie aus dem Sack, legt sie auf den Tisch, zählt sie, und sagt dann weiter:) Ich weiß jetzt nicht, ob ich ihm die anderthalben allein bringen, oder ob ich auf den Wochenlohn warten will bis am Samstag, da ich dann alles beieinander haben werde.

Lienhard. Es macht mir gar nichts, dir den halben Taler jetzt vorauszubezahlen.

Michel. Ich bin herzlich froh, wenn es sein kann, daß ich dieses Mannes noch heute los werde. Ich trage es ihm noch in dieser Stunde ins Haus, wenn ich es habe. – Meister, seit dem heiligen Nachtmahl gestern lag es mir schon schwer auf dem Herzen, daß ich ihm so böse Sachen versprochen hatte. Auf den Abend kam noch dein Jonas, und gab meinem Kinde sein Abendbrot; und auch das machte, daß es mir ans Herz ging, daß ich gegen dich ein Schelm sein wollte. Ich habe dich nie recht gekannt, und nie viel Umgang mit dir gehabt, Lienhard; aber heute habe ich gesehen, daß du mit Geduld und mit Liebe jedermann raten und helfen wolltest, und ich meinte, ich würde nicht selig sterben können, wenn ich einem so braven treuen Menschen das Gute mit Bösem vergelten würde. (Er hatte Tränen in den Augen.) Da sehet ihr, ob es mir nicht ernst ist.

Lienhard. Tue doch überall niemandem etwas Böses mehr.

Michel. Will's Gott, will ich dir folgen.

Gertrud. Es wird dir dann gewiß auch überall wieder besser gehen.

Lienhard. Willst du noch diesen Abend zum Vogt gehen?

Michel. Ja, wenn ich kann.

Der Maurer gibt ihm den halben Taler, und sagt: Bringe ihn doch nicht im Zorn.

Gertrud. Sage ihm doch nicht, daß wir etwas davon wissen.

Michel. Ich will so kurz sein, als ich kann; aber den Augenblick gehe ich, so ist es bald vorüber. Behüte Gott, Gertrud! Ich danke dir, Lienhard. Schlafet wohl!

Lienhard. Ebenfalls; behüte Gott, Michel.

Michel geht ab.


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