Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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1.
Ein herzguter Mann, der aber doch Weib und Kind höchst unglücklich macht.

Es wohnt in Bonnal ein Maurer; er heißt Lienhard und seine Frau Gertrud.Ich muß hier melden, daß in der ganzen Geschichte ein alter angesehener Einwohner von Bonnal redend eingeführt wird. Er hat sieben Kinder und einen guten Verdienst; aber er hat den Fehler, daß er sich im Wirtshaus oft verführen läßt. Wenn er da ansitzt, so handelt er wie ein Unsinniger; und es sind in unserm Dorf schlaue, abgefeimte Bursche, die darauf losgehen und daraus leben, daß sie den Ehrlichern und Einfältigern auflauern, und ihnen bei jedem Anlaß das Geld aus der Tasche locken. Diese kannten den guten Lienhard, verführten ihn oft beim Trunk noch zum Spiel, und raubten ihm so den Lohn seines Schweißes. Aber allemal, wenn das am Abend geschehen war, reute es Lienhard am Morgen, und es ging ihm ans Herz, wenn er Gertrud und seine Kinder Brot mangeln sah, daß er zitterte, weinte, seine Augen niederschlug, und seine Tränen verbarg.

Gertrud ist die beste Frau im Dorf; aber sie und ihre blühenden Kinder waren in Gefahr, ihres Vaters und ihrer Hütte beraubt, getrennt, verschupft,Diese Geschichte ist schweizerisch. Die Szene davon ist in der Schweiz, und ihre Helden sind Schweizer. Man hat deshalb die schweizerischen Namen beibehalten und sogar schweizerische Provinzialworte, wie zum Exempel verschupfen, welches den Fall bedeutet, da ein Mensch von einem Orte zum andern mit einer Art von Druck und Verachtung verstoßen wird. ins äußerste Elend zu sinken, weil Lienhard den Wein nicht meiden konnte.

Gertrud sah die nahe Gefahr, und war davon in ihrem Innersten durchdrungen. Wenn sie Gras von ihrer Wiese holte, wenn sie Heu von ihrer Bühne nahm, wenn sie die Milch in ihren reinlichen Becken besorgte – ach! bei allem, bei allem ängstigte sie immer der Gedanke, daß ihre Wiese, ihr Heustock und ihre halbe Hütte ihnen bald könnten entrissen werden; und wenn ihre Kinder um sie her standen, und sich an ihren Schoß drängten, so war ihre Wehmut immer noch größer, und allemal flossen dann Tränen über ihre Wangen.

Bis jetzt konnte sie zwar ihr stilles Weinen vor den Kindern verbergen; aber am Mittwoch vor der letzten Ostern, da ihr Mann auch gar zu lang nicht heim kam, war ihr Schmerz zu mächtig, und die Kinder bemerkten ihre Tränen. Ach Mutter, riefen sie alle aus einem Munde, du weinst! und drängten sich enger an ihren Schoß. Angst und Sorge zeigten sich in jeder Gebärde; banges Schluchzen, tiefes, niedergeschlagenes Staunen und stille Tränen umringten die Mutter, und selbst der Säugling auf ihrem Arme verriet ein bisher ihm fremdes Schmerzgefühl. Sein erster Ausdruck von Sorge und von Angst, sein starres Auge, das zum erstenmal ohne Lächeln hart und steif und bang nach ihr blickte – alles dieses brach ihr gänzlich das Herz. Ihre Klagen brachen jetzt in lautes Schreien aus; alle Kinder und der Säugling weinten mit der Mutter, und es war ein entsetzliches Jammergeschrei, als eben Lienhard die Türe öffnete.

Gertrud lag mit dem Antlitz auf ihrem Bette, hörte das Oeffnen der Türe nicht, und sah nicht den kommenden Vater. Auch die Kinder wurden seiner nicht gewahr; sie sahen nur die jammernde Mutter, und hingen an ihren Armen, an ihrem Hals und an ihren Kleidern. So fand sie Lienhard.

Gott im Himmel sieht die Tränen der Elenden, und setzt ihrem Jammer ein Ziel.

Gertrud fand in ihren Tränen Gottes Erbarmen; Gottes Erbarmen führte den Lienhard zu diesem Anblick, der seine Seele durchdrang, daß seine Glieder bebten. Todesblässe stieg in sein Antlitz, und schnell und gebrochen konnte er kaum sagen: Herr Jesus, was ist das! – Da erst sah ihn die Mutter, da erst sahen ihn die Kinder, und der laute Ausbruch der Klage verlor sich. O Mutter, der Vater ist da! riefen die Kinder aus einem Munde, und selbst der Säugling weinte nicht mehr.

So wie ein Waldbach oder eine verheerende Flamme endlich nachläßt, so verliert sich auch das wilde Entsetzen, und wird stille, bedächtliche Sorge.

Gertrud liebte den Lienhard, und seine Gegenwart war ihr im tiefsten Jammer Erquickung, und auch Lienhard verließ jetzt das erste bange Entsetzen.

Was ist, Gertrud, sagte er zu ihr, dieser erschreckliche Jammer, in dem ich dich antreffe?

O mein Lieber, erwiderte Gertrud, finstere Sorgen umhüllen mein Herz, und wenn du weg bist, so nagt mich der Kummer noch tiefer.

Gertrud, erwiderte Lienhard, ich weiß, was du meinst . . . ich Elender!

Da entfernte Gertrud ihre Kinder, und Lienhard hüllte sein Antlitz in ihren Schoß, und konnte nicht reden.

Auch Gertrud schwieg eine Weile, und lehnte sich in stiller Wehmut an ihren Mann, der immer mehr weinte und schluchzte und sich ängstigte auf ihrem Schoße.

Indessen sammelte Gertrud alle ihre Stärke, und faßte Mut, um in ihn zu dringen, daß er seine Kinder nicht ferner diesem Unglück und Elend aussetze.

Gertrud war fromm, und glaubte an Gott, und ehe sie redete, betete sie still für ihren Mann und für ihre Kinder, und ihr Herz ward sichtbarlich heiterer. Da sagte sie: Lienhard, trau' auf Gottes Erbarmen, und fasse doch Mut, ganz recht zu tun!

O Gertrud, Gertrud! . . . sagte Lienhard und weinte, und seine Tränen flossen in Strömen.

O mein Lieber, fasse Mut, sagte Gertrud, und glaube an deinen Vater im Himmel, so wird alles wieder besser gehen! Es geht mir ans Herz, daß ich dich weinen mache. Mein Lieber, ich wollte dir gerne jeden Kummer verschweigen. Du weißt, an deiner Seite sättigt mich Wasser und Brot, und die stille Mitternachtsstunde ist mir viel und oft frohe Arbeitsstunde für dich und meine Kinder. Aber, mein Lieber, wenn ich dir meine Sorge verhehlte, daß ich mich noch einst von dir und diesen Lieben trennen müßte, so wäre ich nicht Mutter an meinen Kindern, und an dir wäre ich nicht treu. O Teurer, noch sind unsere Kinder voll Dank und Liebe gegen uns; aber wenn wir nicht Eltern bleiben, so wird ihre Liebe und ihre gute Herzlichkeit, auf die ich alles baue, notwendig verloren gehen müssen. Und dann denke, o Lieber, denke auch, wie dir sein müßte, wenn dein Niklas einst keine Hütte mehr hätte, und Knecht sein müßte, er, der jetzt schon so gern von Freiheit und eigenem Herde redet; Lienhard, wenn er und alle die Lieben, durch unsere Fehler arm gemacht, einst in ihrem Herzen uns nicht mehr dankten, sondern weinten ob uns, ihren Eltern! Könntest du leben, Lienhard, und sehen, wie dein Niklas, dein Jonas, wie dein Liseli und dein Anneli – o Gott! – verschupft, an fremden Tischen Brot suchen müßten? Ich würde sterben, wenn ich das sehen müßte. So sagte Gertrud, und Tränen flossen von ihren Wangen.

Und Lienhard weinte nicht minder. Was soll ich tun, ich Unglücklicher? was kann ich machen? Ich bin noch elender, als du weißt – o Gertrud, Gertrud! – Dann schwieg er wieder, rang seine Hände, und weinte lautes Entsetzen.

O Lieber, verzage nicht an Gottes Erbarmen! O Teurer, was es auch sein mag, rede, daß wir uns raten und helfen!


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