Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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22.
Die Qualen des Meineids lassen sich nicht mit spitzfindigen Künsten ersticken.

Vom Lenk weg geht der Vogt zum Kriecher, und trifft im Dahingehen unversehens den Hans Wüst an. Wenn er ihn von ferne gesehen hätte, so wäre er ihm ausgewichen; denn seit des Rudis Handel klopfte beiden, dem Vogt und dem Wüst, das Herz, wo sie einander antrafen; aber unversehens stieß der Vogt hart auf diesen an der Ecke der Seitenstraße beim untern Brunnen.

Bist du es? sagte der Vogt, und: Ja, ich bin es! antwortete Wüst.

Vogt. Warum kommst du nicht mehr zu mir, und denkst auch gar nicht an das Geld, das ich dir geliehen habe?

Wüst. Ich habe jetzt kein Geld; und wenn ich zurück denke, so fürchte ich, es sei nur zu teuer bezahlt, dein Geld.

Vogt. Du redetest doch nicht so, da ich dir es gab, Wüst; und so ist es doch bös dienen.

Wüst. Ja, dienen, das ist etwas; aber dienen, daß einem hernach auf Gottes Erdboden keine Stunde mehr wohl ist, das ist etwas anderes.

Vogt. Rede nicht so, Wüst! Du hast nichts ausgesagt, als was wahr ist.

Wüst. Du sagst freilich das immer; aber immer ist mir in meinem Herzen, ich habe falsch geschworen.

Vogt. Das ist nicht wahr, Wüst; es ist, auf meine Seele, nicht wahr. Du beschworest nur, was dir vorgelesen wurde, und das war unverfänglich geschrieben. Ich habe dir es mehr als hundertmal vorgelesen, und du sahst es ein wie ich, und sagtest mir allemal: Ja, dazu kann ich schwören. War das nicht ehrlich und geradezu? Was willst du jetzt mit deinem Grämen hintennach? Aber es ist dir nur um die Schuld; du denkst, wenn du so redest, ich warte dir noch länger.

Wüst. Nein, Vogt, da irrest du. Wenn ich das Geld hätte, so würde ich es dir in diesem Augenblick hinwerfen, damit ich dich nicht wieder sähe; denn mein Herz klopft mir, so oft ich dich erblicke.

Du bist ein Narr, sagte der Vogt. Aber auch ihm klopfte das Herz.

Wüst. Ich sah es auch lange an, wie du vorlasest; aber es gefiel mir doch gerade im Anfange nicht, indem es mich dünkte, der Junker habe so geredet, als ob er es anders verstanden hätte.

Vogt. Es geht dich ganz und gar nichts an, was der Junker mündlich geredet hat; du schwurst nur auf den Zettel, den man dir vorlas.

Wüst. Aber er hat danach geurteilt, wie er ihn mündlich verstanden hat.

Vogt. Wenn der Junker ein Narr war, so sehe er zu; was geht das dich an? Er hatte ja den Zettel vor sich, und wenn er ihm nicht deutlich gewesen wäre, so hätte er ihn ja anders schreiben lassen können.

Wüst. Ich weiß wohl, daß du mir es allemal wieder ausreden kannst; aber das macht mir nicht wohl im Herzen, und auf die Kommunion ist mir immer gar zu entsetzlich, daß ich versinken möchte. Vogt, o daß ich dir nie schuldig gewesen wäre! O, daß ich dich nie gekannt hätte, oder daß ich gestorben wäre am Tage, ehe ich den Eid tat!

Vogt. Aber um Gottes willen, Wüst! quäle dich nicht so; es ist Narrheit. Denke doch nur auch allen Umständen nach. Wir gingen bedächtlich, und in deiner Gegenwart fragte ich den Vikari deutlich und klar: Muß denn der Wüst etwas anderes beschwören, als im Zettel steht? Sagt es ihm doch; er versteht es nicht recht. Weißt du noch, was er geantwortet?

Wüst. Ja, aber dann ist es . . .

Vogt. Ha, er sagte doch mit ausdrücklichen Worten: Der Wüst muß kein Haar mehr beschwören, als im Zettel steht. Sagte er nicht genau diese Worte?

Wüst. Ja, aber dann ist es, wenn er das gesagt hat . . .

Vogt. Was: aber dann ist es? Ist dir das auch nicht genug?

Wüst. Nein Vogt, ich will nur heraus reden; es muß doch sein. Der Vikari war dir schuldig wie ich, und du weißt, was er für ein Held war, und wie er allen Huren nachzog. Es mag mich also wenig trösten, was so ein leichtsinniger Tropf zu mir sagte.

Vogt. Sein Leben geht dich nichts an; aber die Lehre verstand er doch, das weißt du.

Wüst. Nein, ich weiß das nicht; aber das weiß ich, daß er nichts taugte.

Vogt. Aber das geht dich nichts an.

Wüst. Ha, es ist mit dem so: wenn ich einen Menschen in einem Stück als sehr schlimm und gottlos kenne, so darf ich ihm in allem andern eben auch nicht viel Gutes zutrauen. Deshalb fürchte ich, der Taugenichts, dein Herr Vikari, habe mich eingeschläfert, und das würde mich denn doch etwas angehen.

Vogt. Laß diese Gedanken fahren, Wüst! Du schwurst auf nichts, als was wahr ist.

Wüst. Ich dachte lange auch so; aber es ist aus! ich kann mein Herz nicht mehr betören. Der arme Rudi! wo ich gehe und stehe, sehe ich ihn vor mir. Der arme Rudi, wie er im Elend und Hunger und Mangel gegen mich zu Gott seufzet! O, o seine Kinder! sie serben (kränkeln), sind gelb, krumm und schwarz wie Zigeuner. Sie waren schön, und blüheten wie Engel, und mein Eid brachte sie um ihre Matte.

Vogt. Ich hatte recht; es war, wie ich sagte. Und jetzt hat der Rudi Arbeit am Kirchbau, daß er auch wieder zurecht kommt.

Wüst. Was geht das mich an? Hätte ich nicht geschworen, so würde es mir gleichviel sein, ob der Rudi reich wäre oder ein Bettler.

Vogt. Laß dich doch das nicht anfechten! Ich hatte recht.

Wüst. Nicht anfechten! ich hatte recht. Haus erbrochen und all sein Gut gestohlen, es würde mir noch besser zu Mute sein. O Vogt, daß ich das getan habe! O, o! es ist wieder bald heilige Zeit! O wär' ich tausend Klafter unter dem Boden!

Vogt. Um Gottes willen, Wüst! tue doch nicht so auf der offnen Straße vor den Leuten! Wenn es auch jemand hörte! – Du plagest dich mit deiner Dummheit; alles, was du schwurst, ist wahr.

Wüst. Dummheit hin und Dummheit her! Hätte ich nicht geschworen, so hätte der Rudi seine Matte noch.

Vogt. Aber du hast sie ihm doch nicht abgesprochen, und mir hast du sie nicht zuerkannt. Was geht's also ins Teufels Namen zuletzt dich an, wem die Matte sei?

Wüst. Nichts geht es mich an, wem die Matte sei; aber daß ich falsch geschworen habe, das geht mich, leider! nur zu viel an.

Vogt. Aber das ist nicht wahr; du hast nicht falsch geschworen. Das, worauf du schwurst, war wahr.

Wüst. Aber das ist nur verdreht. Ich sagte dem Junker nicht, wie ich die Schrift verstand, und er verstand sie anders; du magst sagen, was du willst. Ich weiß, ich empfinde es in mir selber, ich war ein Judas und ein Verräter, und mein Eid – Worte hin und Worte her – war Meineid!

Vogt. Du dauerst mich, Wüst, mit deinem Unverstand; aber du bist krank, du siehst ja aus, wie wenn du aus dem Grabe kämest. Und wenn es einem nicht wohl ist, so sieht man alles anders an, als es ist. Beruhige dich, Wüst! komm mit mir heim, und trink ein Glas Wein mit mir.

Wüst. Ich mag nicht, Vogt; mich erquickt nichts mehr auf Erden.

Vogt. Beruhige dich, Wüst! Schlag es doch jetzt aus dem Kopf, und vergiß es, bis du wieder gesund sein wirst. Du wirst dann wohl wieder sehen, daß ich recht habe; und ich will dir deine Handschrift zerreißen. Es macht dich vielleicht auch ruhiger.

Wüst. Nein, Vogt, behalte die Handschrift! Sollte ich vor Hunger mein Fleisch essen, so werde ich dir die Schuld bezahlen; ich will kein Blutgeld auf meiner Seele behalten. Hast du mich betrogen, hat mich der Vikari eingeschläfert, so wird vielleicht Gott mir noch verzeihen. Ich meinte nicht, daß es so kommen würde.

Vogt. Nimm diese Handschrift, Wüst. Sieh, ich zerreiße sie vor deinen Augen, und ich nehme es auf mich, daß ich recht hatte. Sei doch ruhig!

Wüst. Nimm auf dich was du willst, Vogt; ich werde dir die Schuld bezahlen. Uebermorgen verkauf' ich meinen Sonntagsrock.

Vogt. Besinne dich eines Bessern; du irrest dich in Gottes Namen! Aber ich muß einmal weiter.

Wüst. Gottlob, daß du gehst! Bliebest du länger, ich würde außer mir selber kommen vor deinen Augen.

Vogt. Beruhige dich, Wüst! in Gottes Namen.

Sie gingen jetzt voneinander. Der Vogt aber, da er allein war, mußte, so sehr er auch nicht wollte, doch bei sich selber auch seufzen, und sagte: Daß mir jetzt auch das noch hat begegnen müssen; ich hatte doch heute sonst genug. Er verhärtete sich aber bald wieder und sagte dann weiter: Wie er sich plagt, der arme Schelm! er dauert mich. Aber er hat nicht recht; es geht ihn nichts an, wie ihn der Richter verstanden hat. Der Teufel möchte Eide schwören, wenn man den Sinn so genau und so scharf herausklauben wollte! Ich weiß auch, wie andere Leute und eben die, so das am besten verstehen müssen, den Eid nach ihren Auslegungen nehmen, und ruhig sind, und wo jeder andere arme Schelm, der wie der Wüst denkt, meinen müßte, er sehe mit seinen Augen sonnenklar, daß sie ihn verdrehen. Und doch wollte ich, ich hätte diese Gedanken jetzt aus dem Kopf; sie machen mich verdrießlich. Ich will zurück, und ein Glas Wein trinken. So sagte er, und tat treulich, wie er gesagt hatte.


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