Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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130.
Ein Gespräch zwischen zwei Menschen, die in zehn Tagen vieles gelernt hatten, das sie vorher nicht kannten, und vieles erfahren, das sie vorher nicht wußten.

Als der Vogt ihre Umstände vernahm, bat er den Pfarrer, daß er ihn doch möchte für eine Nacht nach Hause gehen lassen. Der Pfarrer erlaubte es ihm gar gerne, und versprach, es über sich zu nehmen, die Sache beim Junker zu verantworten.

Wenn er von den Toten auferstanden wäre, es hätte seine Frau nicht so überraschen können; und die Freude, ihn zu sehen, war so groß, daß sie zuerst nicht reden konnte. Eine Weile weinten beide miteinander, und es ging sehr lange, ehe sie einander fragen konnten, wie es ihnen auch gegangen sei. Nach und nach aber erholten sie sich, und erzählten dann fast die ganze Nacht hindurch einander, was vorgefallen war.

Zuerst erzählte der Vogt, wie gut der Pfarrer mit ihm sei, und wie gerne er ihn diese Nacht heimgelassen habe. Bald darauf sagte er dann: Aber wie geht es auch dir, Frau? Du hast diese zehn Tage sehr abgenommen.

Vögtin. Wie könnte es auch anders sein? Wenn es nur Gottes Wille ist, daß er mich bald zu sich nimmt.

Vogt. Wünsche doch das nicht! Es geht, will's Gott, von nun an besser.

Vögtin. O Mann! ich wünsche es von Herzen für dich und mich, und mag dir den Kopf nicht groß machen; aber vom Bessergehen mag ich nicht hören. Unsere Zeit ist vorüber, und was uns bevorsteht, ist Jammer und Elend.

Vogt. Ich weiß es; aber wir wollen auf Gott trauen, und tragen, was er uns zu tragen gibt.

Vögtin. Verblende dich doch nicht immer, und glaube nicht, daß du jemals etwas geduldig tragen werdest, was dich schwer drückt.

Vogt. Du glaubst vielleicht, ich sei noch der alte Mensch?

Vögtin. Was soll ich anders glauben?

Vogt. Daß ich es nicht mehr bin.

Vögtin. Du bist wenigstens stiller heimgekommen, als ich erwartet habe. Ich meinte sicher, wenn du mir wieder unter die Augen kommest, du werdest rasen wie ein wütendes Tier.

Vogt. Mein altes Rasen hat, seitdem ich unter den Händen des Pfarrers bin, aufgehört.

Vögtin. Wie ist das auch möglich?

Vogt. Frau, es müßte einer kein Mensch sein, wenn er unter seinen Händen nicht zahmer würde. Er läßt einen tun und sagen, was man will, und zeigt einem dann erst, daß man sich irrt, wenn er auch recht und völlig verstanden hat, was man meint. Aber er bringt einem auch zum Kopfe heraus, was man am härtesten darin hat. Ich meinte ehedem immer, an allem, was mir begegne, seien andere Leute schuld, und es kam mir nie in den Sinn, nachzudenken, wie viel ich selber fehle; und darum bin ich hundertmal wie ein Narr über die unschuldigsten Leute wie rasend geworden.

Vögtin. Ach, du hattest immer Leute bei dir, die dir den Kopf drehten, wohin sie wollten, und dich nicht ruhig nachsinnen ließen, was auch allemal an der Sache sei.

Vogt. Das muß jetzt gewiß anders kommen, und ich will gewiß Ruhe vor ihnen in meiner Stube haben.

Vögtin. Das wird jetzt nicht schwer sein; es betritt kein Mensch, als etwa ein Hiobsbote, unsere Stube.

Vogt. Das ist kein Uebel.

Vögtin. Gott gebe, daß du das immer sagest!

Vogt. Glaube mir doch auch!

Vögtin. Ich will dir gerne glauben, aber es ist mir doch noch angst.

Vogt. Es ist dir nicht zu verargen.

Vögtin. Aber weißt du auch, wer mir diese Zeit über am meisten Liebes und Gutes erwiesen hat?

Vogt. Wie sollte ich das wissen?

Vögtin. Rate nicht lange, ich will dir es sagen. Hans Wüst, der ist vom ersten Tage an, da du gefangen warst, alle Abende zu mir gekommen, mich zu trösten und mir zu helfen. Er spaltete mir Holz, und holte mir Wasser, und tat, was er konnte, und was ich wollte. Er war jetzt ganz munter, und sagte, er sehe jetzt auch wieder freudig Sonne, Mond und Sterne an, weil alles am Tage, und jedermann sein Recht widerfahren sei. Er schlug hundertmal seine Hände zusammen, und sagte: weiß Gott, es geht deinem Manne nicht übel; und es ist auch für ihn besser, daß alles an den Tag gekommen ist; und er wird sich jetzt, will's Gott, auch ändern, was er ohne das nie getan hätte. Dann haben mir Hübelrudi und Gertrud auch viel Gutes erwiesen. Sie ist vier- oder fünfmal bei mir gewesen; aber jetzt ist sie unwillig, daß ich den Treufaug brauche, und sie sagte mir in das Gesicht, sie wisse sicher, daß er mit seinen Henkerstropfen schon viele Leute vergiftet habe.

Vogt. Es ist mir mit dem Tropfen auch nicht ganz recht. Ich habe schon so allerlei davon erzählen hören, daß du sie mir nicht hättest nehmen dürfen, wenn ich dagewesen wäre.

Vögtin. Es wird, will's Gott, nicht so böse sein.

Vogt. Hast du noch viel davon?

Vögtin. Nein, ich bin fast fertig.

Vogt. Es macht mir angst.

Vögtin. Mache mir jetzt den Kopf nicht so groß; es ist jetzt, was es ist.

Vogt. Du hast recht. Ich will dir jetzt etwas erzählen, das dich freuen wird, und das ich dir zuerst hätte erzählen sollen. Denke auch, der Rudi hat mir und dir, so lange eins von uns beiden lebt, alle Jahre für eine Kuh Gras und Heu ab der unglücklichen Matte, die er gottlob jetzt wieder hat, versichert.

Vögtin. Herr Jesus, was du auch sagst! Ist das auch möglich von ihm?

Vogt (mit Tränen in den Augen). Es ging mir wie dir; ich konnte es fast nicht glauben, und ihm fast nicht danken. Und ohne das ist er noch zu mir gekommen, um mir zu. sagen, daß seine Mutter auf dem Todbette mir verziehen, und mir alles Gute an Leib und Seele angewünscht habe.

Vögtin. Ach, das freut mich fast noch mehr als sein Heu und Gras, so sehr wir auch dieses nötig haben.

Vogt. Und mich gewiß auch. Aber du hast während dieser Zeit gewiß etwas Freudiges gehabt.

Vögtin. Wohl freilich habe ich auch etwas Freudiges gehabt; aber dann freilich auch anderes.

Vogt. Nicht wahr, meine besten Freunde waren die schlimmsten?

Vögtin. Es ist fast so. Im Anfange war alles gut, und sie sind alle Abende zu mir geschlichen, und haben mir alles Gute versprochen, wenn ich machen könne, daß du keinen von ihnen mit ins Spiel ziehest. Ich sagte ihnen aber geradezu, wie es war, und ich könne nichts machen. Auf dieses hin sind sie nicht mehr gekommen. Hernach aber muß etwas vorgefallen sein, das ich nicht weiß; kurz sie sind alle auf einmal wie wütend über uns geworden, und haben mir die entsetzlichsten Sachen sagen und drohen lassen, bald uns Hungers sterben zu lassen, bald dich hinter dem ersten Hage zu erschießen, bald uns das Haus über dem Kopfe samt uns zu verbrennen.

Vogt. Das sind Großmäulerreden, sonst nichts.

Vögtin. Ich habe es auch dafür aufgenommen; aber ob der Schnabelgrithe bin ich fast toll geworden.

Vogt. Was hat sie denn gemacht?

Vögtin. Sie hat mit dem Maurer wegen ihres ewigen Schwatzens Händel gekriegt. Dieser hat sie beim Brunnen vor einer ganzen Schar Weiber zuschanden gemacht, wie sie es verdiente. Auf dieses hin ist sie spornstreichs in aller Wut zu mir gelaufen, und hat ein Geschrei und einen Lärm ob dem, was ihr begegnet ist, angefangen, als wenn sie am Spieß hängen würde. Sie gab uns schuld, und sagte, wir seien ein verfluchtes Volk, wir brächten noch alle Menschen im Dorfe ins Unglück und um Leib und Seele. Es war mir gar nicht wohl, und ich wußte nur halb, was begegnet war; aber doch verstand ich so viel davon, daß ich ihr antwortete: wenn sie ihr Maul gehalten hätte, so wäre ihr nichts begegnet. Sie fuhr aber doch immer fort, und sagte, sie habe nie etwas wider den Maurer gehabt; und wenn sie wegen der paar Worte, die ihr entwischt seien, ins Unglück komme, so habe sie dasselbe nur uns zu danken. Ich ließ sie lange reden; endlich aber sagte ich doch: Base, ich meinte doch, du solltest wissen, daß ich jetzt sonst genug zu tun habe, und daß du nicht mit mir über so etwas, woran ich weder wenig noch viel schuldig bin, streiten solltest. Darauf antwortete sie: Es geschieht euch nur recht, daß euch das begegnet, ihr habet es schon längst verdient; aber daß ich und andere Leute noch mit euch ins Unglück kommen, das ist nicht recht. Damit bekam ich doch genug; und ich sagte zu ihr: Grithe, wenn du Händel und Streit willst, so suche jemanden, der es besser ertragen kann als ich jetzt. Und hiemit ging ich von ihr weg in die Küche. Darüber wurde sie so wild, daß sie beim Weggehen noch auf der offenen Straße durch die Stiege hinauf mir zurief: Ihr seid ein verfluchtes Volk; und wer etwas mit euch hat, der kommt ins Unglück! Die Stubentür schlug sie so stark zu, daß sie aus der Angel fuhr.

Vogt. Es nimmt mich gar nicht wunder; denn für das habe ich sie schon mein Lebtag gekannt.

Vögtin. Es ist wahr; aber du weißt doch auch, wie viel Gutes sie bei uns genossen hat, und wie sie allemal, wenn etwas mehr als sonst in die Küche kam, herzuschlich, und den Ranzen füllte, ohne mir einen Heller zu zahlen.

Vogt. Das sind jetzt alte Kalender, dafür uns niemand nur ein »dank' dir Gott« sagt.

Vögtin. Es ist wohl so. – Denke auch, wie der Kriecher gegen mich hat handeln können. Von dem Augenblick an, da dir dein Unglück begegnet ist, ist er immer vor unserm Hause vorbeigestrichen, und hat überall, wo er jemand unter einem Fenster oder unter einer Türe sah, gespöttelt und geträtzelt, und vor mir selber auf offener Straße beim Brunnen die Zunge herausgestreckt, und überlaut vor allen Leuten gesagt: wenn wir das Unglück, das über uns gekommen, mit nichts verdient hätten, so hätten wir es damit verdient, daß wir ihn beim Pfarrer so durchgezogen haben; aber wir könnten jetzt die Wochenbrötlein, die wir ihm abstehlen wollten, selber brauchen.

Vogt. So! Doch seit letzten Mittwoch hat er das gewiß nicht mehr getan?

Vögtin. Nein, ich habe ihn seit dem Mittwoch nicht mehr gesehen.

Vogt. Ich denke es wohl.

Vögtin. Warum?

Vogt. Weil er am Dienstag seinen Lohn dafür bekommen hat.

Vögtin. Von wem?

Vogt. Vom Pfarrer.

Vögtin. Hat der es schon erfahren?

Vogt. Das glaube ich. Es ging keine Stunde vorbei, so wußte er es schon. Du weißt nämlich, am Dienstag kommen die Wöchenbrötler ins Pfarrhaus, und der Kriecher schickt aus Hoffart immer jemand anders; aber der Pfarrer gab es ihm diesmal nicht, sondern sagte, er solle nur selber kommen. Er wollte das nicht gerne tun, und sandte deswegen sein Kind mit dem Bericht, er sei krank, und liege im Bette; und er lasse um die Gabe bitten, sie hätten keinen Mundvoll Brot mehr im Hause. Der Pfarrer schickte aber auch das Kind ohne Brot heim mit der Antwort: er kenne seine Krankheit, sie sei schon alt, und das Spazierengehen sei gesund für ihn, und er solle und müsse kommen; er wisse wohl warum. Er kam endlich in der Dämmerung, da ich gerade in der Nebenstube war; und es ist mir, ich höre den Pfarrer noch jetzt mit der Faust auf den Tisch schlagen, daß er zitterte, und ihm dann sagen: Kriecher, du hast dich diesen Vormittag beim Brunnen gegen die Vögtin aufgeführt, daß nicht ein Pfarrer, sondern ein Kerl mit der Hundspeitsche mit dir reden sollte. Ich habe dich hundertmal in der Kirche und auf der Straße mit meinen Augen vor dem Vogt bücken und schmiegen gesehen wie ein Hund; und jetzt, da er im Unglück ist und seine Frau in der tiefsten Betrübnis, streckst du auf offener Straße die Zunge gegen sie heraus, und brauchst dein Maul, sie mit den unverschämtesten Bosheiten und Lügen zu kränken. Aber der Kriecher wollte noch recht haben, und antwortete, man lüge über ihn, und es sei nicht wahr; er sei ein unglücklicher Mann. Wenn einer, der ab dem Galgen gefallen, etwas über ihn sage, so glaube man es ihm. Der Pfarrer kam darüber so in Eifer, daß ich ihn mein Lebtag nie so gesehen, und ihn nie solche Worte brauchen gehört habe. Er sagte zu ihm: Du Lumpenhund! du Spitzbub! du mußt wissen, daß ich weiß, was ich rede. Du hast es nicht nur getan, sondern du hast noch bei den Taglöhnern auf dem Kirchhofe den Spaß darüber getrieben, daß du es getan habest. Aber jetzt fort! Fort! Und aus meinen Augen! Und danke Gott, daß mir mein Amt und mein Alter verbieten, den Stock, den ich in den Händen habe, zu gebrauchen, wie ich jetzt wünschte! Der Kriecher murrte im Weggehen noch immer von Leuten, die ab dem Galgen gefallen, und lieber seien als er. Auf der Stiege aber wurde er stille; er stieß im ersten Augenblick, da er allein war, so viel Brot ins Maul, daß er dem Hans, der mit einer Taufe Wasser die Stiege heraufkam, und ihm einen guten Abend wünschte, nicht einmal »dank dir Gott« sagen konnte.


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