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Hundertundeinundsechzigster Brief.
Roxane an Usbek in Paris.

Ja, ich habe Dich hintergangen; ich habe Deine Eunuchen verführt; ich habe an Deiner Eifersucht meine Freude gehabt; und ich habe es verstanden, aus Deinem schauerlichen Serail eine Stätte wonnigen Genusses zu machen.

Ich suche den Tod; das Gift wird in meine Adern strömen. Denn was soll ich hier noch länger, da der einzige Mann, der mich an das Leben fesselte, nicht mehr ist? Ich sterbe; aber mein Schatten entschwebt nicht allein: soeben habe ich jene verruchten Schergen vorausgesandt, die das köstlichste Blut der Welt vergossen haben.

Wie konntest Du mich für so leichtgläubig halten, um mir einzubilden, meine einzige Lebensbestimmung sei die Anbetung Deiner Launen? Wie konntest Du glauben, ich werde Dir das Recht zugestehen, alle meine Begierden grausam zu unterdrücken, während Du Dir alles gestattest? Nein! In der Knechtschaft konnte ich leben; aber ich bin jederzeit frei geblieben. Ich habe Deine Regeln nach dem Naturgesetze umgewandelt, und mein Geist hat sich seine Unabhängigkeit immer bewahrt.

Du solltest mir noch dankbar sein für das Opfer, welches ich Dir gebracht habe; dankbar dafür, daß ich mich so weit erniedrigt habe, Dir Treue zu heucheln; daß ich feige in meinem Herzen verborgen hielt, was ich vor aller Welt hätte verkünden sollen; mit einem Worte, daß ich die Tugend entweiht habe, indem ich duldete, daß man meiner Unterwerfung unter Dein launenhaftes Belieben diesen Namen gab.

Du warst immer erstaunt, den Wollusttaumel der Liebe bei mir nicht zu entdecken; wenn Du mich recht gekannt hättest, so würdest Du statt seiner die ganze Empörung des Hasses gewahrt haben.

Aber Du hast lange die Genugthuung gehabt, zu glauben, daß ein Herz wie das meinige Dir ergeben sei. Wir waren beide glücklich; Du hieltest mich für betrogen, und ich betrog Dich.

Diese Sprache wird Dir vermutlich neu erscheinen. Sollte ich, nachdem ich Dir soviel Leid angethan, Dich noch zwingen können, meinen Mut zu bewundern? Doch es geht zu Ende. Das Gift verzehrt mich; meine Kräfte schwinden; die Feder entsinkt meiner Hand. Ich fühle, wie selbst mein Haß nachläßt; ich sterbe.

Im Serail zu Ispahan, am 8. des ersten Mondes Rebiab, 1720.



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