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Hundertundneunundfünfzigster Brief.
Solim an Usbek in Paris.

Ich beklage mich, erlauchter Herr, und ich beklage Dich. Noch nie war ein getreuer Diener in so furchtbarer Verzweiflung, wie sie über mich gekommen ist. Vernimm Dein Unglück und das meinige; meine Hand zittert, indem ich Dir schreibe.

Bei allen Propheten des Himmels schwöre ich Dir, daß ich Tag und Nacht über Deine Frauen gewacht habe, seitdem Du sie mir anvertraut; daß mein unermüdlicher Eifer keinen Augenblick zur Ruhe gekommen ist. Mit Züchtigungen begann ich die Ausübung meines Amtes; und als ich sie einstellte, bin ich doch nach wie vor der natürlichen Strenge meines Charakters treu geblieben.

Aber warum erwähne ich diese Dinge? Warum rühme ich Dir jetzt eine Treue, die ihren Zweck verfehlt hat? Vergiß alles, was ich in Deinem Dienste gethan habe; betrachte mich als einen Verräter, und laß mich für alle Verbrechen, die ich nicht hindern konnte, die Strafe erleiden.

Roxane, die stolze Roxane! O Himmel, wem soll man künftig noch trauen? Dein Argwohn hatte sich auf Zachi gelenkt, und in Roxane setztest Du völlige Zuversicht. Aber ihre spröde Tugend war ein grausamer Betrug; sie war der Schleier, hinter dem sich ihre Treulosigkeit verbarg. Ich habe sie in den Armen eines jungen Mannes überrascht, der auf mich eindrang, als er sich ertappt sah. Er hat mir zwei Dolchstiche versetzt. Auf den Lärm eilten mir die Eunuchen zu Hilfe und umringten ihn. Er vertheidigte sich lange gegen sie und verwundete mehrere von ihnen; ja er wollte sich sogar die Rückkehr in das Zimmer erkämpfen, um, wie er sagte, vor Roxanes Augen zu sterben. Endlich aber erlag er der Überzahl und stürzte uns tödlich getroffen zu Füßen.

Ich weiß nicht, erhabener Gebieter, ob ich warten soll, bis Deine verschärften Befehle eintreffen. Du hast Deine Rache in meine Hände gelegt; ich darf sie nicht einschlafen lassen.

Im Serail zu Ispahan, am 8. des ersten Mondes Rebiab, 1720.



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