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Hundertundachter Brief.
Rica an Ibben in Smyrna.

Ich habe den jungen Monarchen gesehen. Sein Leben ist nicht nur seinen Unterthanen, sondern, wegen der schweren Verwicklungen, die sein Tod verursachen könnte, auch dem gesamten Europa sehr kostbar. Ludwig XV. war den Franzosen in der That so kostbar, daß er den Beinamen »der Vielgeliebte« (le Bien-aimé) erhielt, als er im Jahre 1744 zu Metz auf den Tod lag, und ganz Paris um ihn klagte. Dreißig Jahre später, als er starb, lagen die Verhältnisse anders. (Siehe Carlyle, French Revolution, I, 1–2.) Allein die Könige gleichen den Göttern; solange sie leben, muß man sie für sterblich halten. Seine Gesichtsbildung ist majestätisch, aber doch einnehmend; gute Erziehung, verbunden mit einer glücklichen natürlichen Begabung, scheinen zu versprechen, daß er ein großer Fürst werden wird.

Es heißt, man könne den Charakter der abendländischen Könige niemals durchschauen, bis sie die beiden großen Proben, Mätresse und Beichtvater, bestanden haben. Man wird bald genug das Schauspiel haben, wie diese beiden Mächte ihre Netze auswerfen, um den Geist des jungen Herrschers unter ihren Einfluß zu bringen, und es wird um diesen Preis mancher Kampf ausgefochten werden. Denn unter einem jungen Fürsten wetteifern diese zwei Parteien immer um den Vorrang; dagegen versöhnen und verbünden sie sich unter einem alten. Unter einem jungen Fürsten spielt der Derwisch eine schwierige Rolle; die Kraft des Königs schwächt seinen Einfluß. Die Mätresse aber triumphiert nicht minder über seine Kraft wie über seine Schwachheit.

Bei meiner Ankunft in Frankreich fand ich den alten König in völliger Abhängigkeit von den Weibern, Die Maintenon, ehedem Gattin des Dichters Scarron, hatte sich in der That mit dem Beichtvater verbündet und es dahin gebracht, daß der König sie sich heimlich antrauen ließ. »Ludwig XIV.,« sagt Weber, »hielt sich für einen Gott, weil ihn seine Franzosen dafür hielten, und fürchtete sich vor Hölle und Teufel, daß er seine alte Maintenon heiratete.« (Demokritos, Bd. 3, 222.) Neben ihr hatten auch andre Frauen großen Einfluß. obwohl ich annehmen muß, daß er, hochbejahrt, wie er war, von allen Monarchen auf Erden ihrer am wenigsten bedurfte. Eines Tages hörte ich von einer Frau die Äußerung: »Man muß für diesen jungen Obristen ein Wort einlegen; ich kenne seine Tapferkeit; ich werde mit dem Minister darüber sprechen.« Eine andre sagte: »Es ist doch auffallend, daß man diesen jungen Abbé ganz vergessen hat, man muß ihn zum Bischof machen. Er stammt aus gutem Hause, und ich kann für seinen Lebenswandel bürgen«. Du darfst keineswegs glauben, daß die, welche eine solche Sprache führten, bei dem Fürsten in besonderer Gunst standen; vielleicht hatten sie nicht zweimal in ihrem Leben mit ihm geredet, obwohl dies bei den europäischen Fürsten etwas Leichtes ist. Vielmehr verhält es sich damit so, daß niemand, in Paris oder in den Provinzen, ein Hofamt bekleidet, der nicht eine Frau hätte, durch deren Hände alle Gunsterweisungen, und manchmal auch die Ungerechtigkeiten gehen, die in seiner Macht liegen. Alle diese Frauen unterhalten Beziehungen zu einander und bilden eine Art Republik, deren immer thätige Mitglieder sich wechselseitig helfen und dienen; es ist gleichsam ein neuer Staat im Staate. Wer am Hofe, in Paris, in den Provinzen Minister, hohe Beamte und geistliche Würdenträger in Thätigkeit sieht und die Frauen nicht sieht, welche sie alle leiten und lenken, gleicht einem Manne, der die Arbeit einer Maschine betrachtet, ohne ihre Triebfedern zu kennen.

Glaubst Du etwa, Ibben, eine Frau ließe es sich beikommen, die Mätresse eines Ministers zu werden, um bei ihm zu schlafen? Weit gefehlt! Nein, sie thut es, um ihm jeden Morgen fünf oder sechs Bittschriften vorzulegen; und ihre natürliche Gutmütigkeit zeigt sich in ihrem eifrigen Bestreben, einer Unzahl von Unglücklichen Wohlthaten zu erweisen, die ihr eine Rente von hunderttausend Livres einbringen.

In Persien beklagt man sich, daß das Reich von zwei oder drei Frauen regiert wird; aber in Frankreich steht es noch viel schlimmer; denn hier regieren die Weiber überhaupt und halten nicht nur im Großen und Ganzen alle Macht in Händen, sondern teilen dieselbe sogar noch im Einzelnen unter sich.

Paris, am Letzten des Mondes Chalval, 1717.



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