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Sechsundsechzigster Brief.
Rica an ***.

Viele Leute pflegen hier die Wissenschaft; aber ich weiß nicht, ob sie besonders gelehrt sind. Wer als Philosoph an allem zweifelt, wagt als Theologe nichts zu leugnen; Dies bezieht sich auf »die Lehre von der zweifachen Wahrheit, der philosophischen und her theologischen, welche neben einander bestehen können, ungeachtet sie ganz entgegengesetzten Inhalt haben.« (Lange, Geschichte des Materialismus, I, 2, Seite 181.) Durch Lotze erhielt diese Lehre den Namen »doppelte Buchführung«. Sie entstand im dreizehnten Jahrhundert, nachdem der Zwiespalt der Theologie mit der Lehre des Aristoteles, welcher von den Scholastikern wie ein Kirchenvater behandelt wurde, offenbar geworden war. Johann de Brescain, ein Lehrer der Universität Paris, war wohl der erste, der diese »zweifache Wahrheit« in sich zu vereinigen wußte. (Vergl. auch Renan's »Averroès«.) und, obwohl mit sich selbst in Widerspruch, ist ein solcher Mensch doch stets mit sich selbst zufrieden, vorausgesetzt, daß man ihn gelten läßt.

Die meisten Franzosen sind darauf versessen, Geist zu haben; und wenn sie welchen haben, so stellt sich die Sucht des Bücherschreibens bei ihnen ein.

Indessen giebt es keine größere Thorheit. Die Natur schien weislich für die Vergänglichkeit des menschlichen Unverstandes gesorgt zu haben; aber die Bücher machen ihn unsterblich. Nicht zufrieden damit, seine Zeitgenossen gelangweilt zu haben, will ein Tropf auch die künftigen Geschlechter noch plagen. Seine Dummheit soll über die Vergessenheit triumphieren, deren er wie der Grabesruhe hätte genießen können; die Nachwelt soll erfahren, daß er gelebt hat; sie soll für alle Zeit wissen, daß er ein Tropf war.

Von allen Schriftstellern verachte ich keine so sehr wie die Kompilatoren, die überall nach Fetzen aus den Werken andrer herumsuchen, welche sie dann in die ihrigen einfügen wie Rasenstücke in ein Gartenbeet. Sie stehen nicht höher, als die Setzer in der Druckerei; denn auch diese reihen Buchstaben an einander, und wenn auf solche Art ein Buch entsteht, so war es nur ihre Hand, die dazu geholfen hat. Ich wünschte, man hätte Achtung vor den Originalwerken; es scheint mir eine Art von Entweihung, ihre Bestandteile aus dem Heiligtum, dem sie angehören, herauszureißen, um sie einer unverdienten Verachtung auszusetzen.

Warum kann ein Mensch nicht schweigen, wenn er nichts Neues zu sagen hat? Warum diese doppelte Mühe? – »Nun, ich ordne die Sachen unter neuen Gesichtspunkten!« Dann sind Sie freilich ein kluger Mann. Es ist dasselbe, als ob Sie in meine Bibliothek kämen und die Bücher unten aufstellten, welche oben stehen, und oben, welche unten stehen –ein wahres Meisterstück!

Ich schreibe Dir von diesen Dingen, ***, weil ich über ein Buch, von dem ich soeben davon gelaufen, in großem Ärger bin. Es ist so dick, daß es aussieht, als müsse die gesamte Weltweisheit darin enthalten sein; aber ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen und doch nichts daraus gelernt. Lebewohl.

Paris, am 8. des Mondes Chahban, 1714.



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