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Hundertundvierundvierzigster Brief.
Rica an Usbek.

Vor einigen Tagen war ich in einem Landhause zum Besuch und kam daselbst mit zwei Gelehrten zusammen, die hier eines großen Rufes genießen. Ihr Charakter erschien mir bewundernswert. Die Unterhaltung des ersten, welche vielen Beifall fand, beschränkte sich auf die Worte: »Was ich gesagt habe, ist wahr, weil ich es gesagt habe.« Auf etwas ganz verschiedenes liefen alle Bemerkungen des zweiten hinaus, nämlich: »Was ich nicht gesagt habe, ist nicht wahr, weil ich es nicht gesagt habe.«

Der erste machte mir einen ziemlich guten Eindruck; denn ich nehme gar keinen Anstoß daran, ob jemand starrsinnig sei; ist er aber unverschämt, so erregt er meinen Widerwillen. Der erstere verteidigt seine Meinungen, das heißt, seine eigene Habe; der andere hingegen bestreitet die Meinungen aller Übrigen, das heißt das Gemeingut aller Welt.

O, mein lieber Usbek, welchen Schaden thut die Eitelkeit ihren Besitzern, wenn sie eine stärkere Dosis davon haben, als zur Selbsterhaltung nötig ist! Solche Leute wollen unsere Bewunderung erzwingen, selbst wenn sie dadurch unser Mißfallen erregen. Sie streben nach Überlegenheit über Leute, denen sie nicht einmal gewachsen sind.

O ihr Bescheidenen, laßt euch umarmen. Ihr versüßt und schmückt das Leben. Ihr glaubt, nichts zu besitzen; aber ich sage euch, daß euch alles gehört. Ihr wollt niemand demütigen, und ihr demütigt alle Welt. Und wenn ich euch im Geiste mit jenen Unfehlbaren vergleiche, so stürze ich sie von ihrem Richterstuhle und weise ihnen einen Platz zu euren Füßen.

Paris, am 22. des Mondes Chahban, 1720.



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