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Hundertunddritter Brief.
Usbek an Ibben in Smyrna.

Die mächtigsten Staaten in Europa sind die des Kaisers und der Könige von Frankreich, Spanien und England. Italien und ein großer Teil von Deutschland zerfallen in eine Unzahl kleiner Staaten, deren Fürsten recht eigentlich die Märtyrer der Souveränetät sind. Unsere ruhmreichen Sultane haben mehr Frauen, als die meisten dieser Fürsten Unterthanen beherrschen. Die italienischen sind weniger eng verbündet und deswegen besonders bedauernswert; ihre Staaten liegen so offen da wie die Karawansereien; jeden Eindringling müssen sie aufnehmen. Notgedrungen schließen sie sich daher an die großen Fürsten an und behelligen sie vielmehr durch ihre Furcht, als sie ihnen durch ihre Freundschaft nützlich werden.

Die Regierungsform der meisten europäischen Staaten ist die monarchische, oder vielmehr wird sie so genannt; denn ich weiß nicht, ob es jemals in Wirklichkeit eine Monarchie gegeben hat; wenigstens könnte sie unmöglich lange in ihrer Reinheit bestanden haben. Sie ist etwas Gewaltsames, das stets in den Despotismus oder in die Republik ausartet. Die Macht kann niemals gleichmäßig zwischen Volk und Fürst verteilt sein; es ist zu schwierig, das Gleichgewicht zu erhalten. Während die Gewalt auf der einen Seite zunimmt, muß sie auf der anderen abnehmen; der Vorteil aber ist gewöhnlich auf Seiten des Fürsten; denn dieser steht an der Spitze des Heeres. Schvarcz (a. a. O.) macht zu dieser Stelle die Bemerkung, sie sei »zweifellos in verfassungspolitischer Hinsicht die denkwürdigste in den ›Persischen Briefen‹. Wir ersehen daraus nicht nur Montesquieu's Hang zu überstürzten verfassungspolitischen Generalisationen, sondern auch seine äußerst mangelhafte staatswissenschaftliche Schulung. Er schildert da die verfassungspolitischen Zustände Europas derart, als ob es auf unsrem Erdteil zu seiner Zeit – in den ersten Decennien des 18. Jahrhunderts – überhaupt keine konsolidierten Monarchien, sondern nur Republiken, Despotien, und neben diesen nur noch zwischen Republik und Despotie schwankende Hybrid-Staatsformen gegeben hätte.«

So ist denn die Macht der europäischen Könige sehr groß; man kann wohl sagen, sie ist gerade so groß, wie sie es wünschen. Jedoch machen sie keinen so unbeschränkten Gebrauch von derselben wie unsere Sultane; erstlich, weil sie gegen die Sitten und die Religion ihrer Völker nicht verstoßen wollen; zweitens, weil es ihnen keinen Vorteil bringen würde, wenn sie darin zu weit gingen.

Durch nichts wird die Lage der Fürsten derjenigen ihrer Unterthanen ähnlicher, als durch die maßlose Gewalt, welche sie über dieselben ausüben; und durch nichts sind sie mehr gefährdet und den Launen des Schicksals ausgesetzt.

Der bei den orientalischen Herrschern übliche Brauch, jeden, der ihr Mißfallen erregt, auf ihren leisesten Wink aus der Welt schaffen zu lassen, wirft das Verhältnis, in dem die Strafe zum Vergehen stehen soll, über den Haufen; und doch ist dies richtige Verhältnis gleichsam die Seele der Staaten und die Harmonie der Reiche. Dadurch, daß die christlichen Fürsten es gewissenhaft beobachten, haben sie einen unendlichen Vorteil vor unseren Sultanen.

Wenn sich ein Perser durch Unbesonnenheit oder Mißgeschick die Ungnade des Fürsten zugezogen hat, so muß er auf seinen Tod gefaßt sein; der kleinste Fehltritt oder die geringste Laune führt denselben herbei. Aber wenn er einen Anschlag auf das Leben seines Landesherrn gemacht oder dessen Festungen an den Feind zu verraten versucht hätte, so würde er auch weiter nichts verlieren können, als das Leben; er wagt also im letzteren Falle nicht mehr, als im ersteren.

Sieht er nun bei der geringsten Ungnade seinen Tod voraus, ohne etwas Schlimmeres fürchten zu müssen, so liegt ihm natürlich die Versuchung nahe, die Ruhe des Staates zu stören und gegen den Machthaber eine Verschwörung anzuzetteln; denn dies ist die einzige Hilfe, auf die er sich angewiesen findet.

Ganz anders verhält es sich mit den europäischen Großen, denen durch Ungnade nur Wohlwollen und Gunst entzogen werden. Sie ziehen sich vom Hofe zurück, und denken nur noch daran, in Ruhe ihr Leben und die Vorteile ihres Standes zu genießen. Da sie nur für ein Majestätsverbrechen mit dem Tode bestraft werden, so fürchten sie sich, ein solches zu begehen, in Erwägung dessen, was sie dabei zu verlieren, und des wenigen, was sie dabei zu gewinnen haben. Deswegen kommt es hier so selten zu einem Aufstand, und so wenige Fürsten sterben eines gewaltsamen Todes.

Wenn unsre Fürsten bei ihrer unbeschränkten Gewalt nicht so viele Vorsichtsmaßregeln anwendeten, um ihr Leben zu sichern, so würden sie es am ersten Tage verlieren; und wenn sie nicht eine zahllose Truppenmenge besoldeten, um ihre übrigen Unterthanen zu tyrannisieren, so würde ihre Herrschaft keinen Monat bestehen.

Erst vor vier oder fünf Jahrhunderten umgab sich ein König von Frankreich, Philipp August war der erste französische König, der eine Leibwache und ein stehendes Heer in Friedenszeiten unterhielt, weil ihm zur Zeit seines Kreuzzuges (1191) durch die Meuchelmörder des Assassinenordens, dessen Großmeister Scheikh al Gebel, »der Alte vom Berge«, war, nachgestellt wurde. ganz gegen den Gebrauch jener Zeit, mit einer Leibwache, um sich vor den Meuchelmördern zu schützen, die ein kleiner asiatischer Fürst mit seiner Ermordung beauftragt hatte; bis dahin hatten die Könige, wie Väter unter ihren Kindern, ruhig mitten unter ihren Unterthanen gelebt.

Weit entfernt, gleich unsren Sultanen einem ihrer Unterthanen nach persönlicher Willkür das Leben zu rauben, üben die Könige von Frankreich vielmehr Gnade an jedem Verbrecher, wo immer sie erscheinen; es genügt, daß er so glücklich sei, das erlauchte Angesicht seines Fürsten zu erblicken, um des Lebens wieder wert zu werden. Diese Monarchen gleichen der Sonne, welche allenthalben Wärme und Leben verbreitet.

Paris, am 8. des zweiten Mondes Rebiab, 1717.



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