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Hundertundsechster Brief.
Rhedi an Usbek in Paris.

Einer von Deinen Briefen enthielt viel über die Künste und Wissenschaften, die im Abendlande gepflegt werden. Aber ich gestehe Dir, selbst wenn Du mich für einen Barbaren halten solltest, ich weiß nicht, ob ihr Nutzen die Menschen für den schlechten Gebrauch entschädigt, den man täglich von ihnen macht. Dies ist das Thema, durch dessen Bearbeitung Rousseau im Jahre 1750 den Preis der Akademie von Dijon davontrug. Den nämlichen Standpunkt vertraten Cornelius Agrippa (1521), Giraldi, (1551), Montaigne (I, 24; II, 12; III, 12) und Charron (De la sagesse, III, 14). Aber Montesquieu widerlegt denselben im folgenden Briefe.

Ich habe sagen hören, allein durch die Erfindung der Bomben seien alle Völker in Europa ihrer Freiheit verlustig gegangen. Da die Fürsten die Verteidigung der Festungen nicht länger den Bürgern anvertrauen konnten, die sich beim Eindringen der ersten Bombe ergeben haben würden, so hatten sie einen Vorwand, starke Heere von regelmäßigen Truppen zu unterhalten, mit deren Hilfe sie später ihre Unterthanen unterdrückten.

Du weißt, daß es seit der Erfindung des Pulvers keine unüberwindlichen Festungen mehr giebt; das heißt, Usbek, es giebt auf Erden keine Zuflucht mehr gegen Ungerechtigkeit und Gewalt. Daß die Erfindung des Schießpulvers und die größere Bedeutung, welche die Infanterie dadurch erlangte, einen wichtigen Einfluß auf den Fortschritt der Demokratie ausgeübt hat, betont Lecky (Hist. of Rationalism, II, pg. 212–214).

Immer muß ich mit Zittern daran denken, daß man schließlich vielleicht ein Geheimnis entdecken wird, vermöge dessen man noch weit schneller die Menschen verderben und Völker und Nationen vernichten könnte. Du hast die Geschichtschreiber gelesen. Ist es Dir dabei niemals aufgefallen, daß fast alle Monarchien nur auf Unbekanntschaft mit den Künsten begründet und nur deswegen zerstört wurden, weil diese sich zu hoch entwickelt hatten? Das alte Perserreich kann uns dafür als heimatliches Beispiel dienen.

Ich bin noch nicht lange in Europa; aber ich habe schon urteilsfähige Leute von den Verheerungen der Chemie reden hören. Allem Anschein nach scheint dies eine vierte Geißel zu sein, welche die Menschen dem Untergange weiht; sie thut ihr Zerstörungswerk nur im Kleinen, aber unaufhörlich, während Krieg, Pest und Hungersnot sie im Großen, aber nur nach langen Zwischenräumen hinwegraffen.

Was hat uns die Erfindung des Kompasses und die Entdeckung so vieler fremder Völker genützt? Hat sie nicht vielmehr ihre Krankheiten, als ihre Reichtümer auf uns übertragen? Durch allgemeines Übereinkommen hatte man dem Gold und Silber die Bestimmung zuerkannt, als Preis aller Waaren und als Unterpfand ihres Wertes zu dienen, weil diese Metalle selten und zu jedem andren Gebrauche untauglich waren. Welchen Vorteil hatte es also für uns, daß sie gemeiner wurden, und daß wir, um den Wert eines Nahrungsmittels auszudrücken, zwei oder drei Zeichen anstatt eines einzigen erhielten? Das war nur weniger bequem.

Andrerseits aber ist diese Erfindung für die entdeckten Länder höchst verderblich geworden. Ganze Nationen wurden ausgerottet; und die, welche dem Tode nicht zur Beute fielen, wurden so grausam geknechtet, daß einem Muselmann bei der bloßen Erzählung die Haut schaudert.

Glückliche Unwissenheit der Kinder Muhameds! Liebenswürdige Einfalt, die unserem heiligen Propheten so teuer ist. Du erinnerst mich immer an die ungekünstelte Natürlichkeit der alten Zeit und an die Ruhe, welche in dem Herzen unserer Vorfahren ihre Wohnung hatte.

Venedig, am 2. des Mondes Rhamazan, 1717.



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