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Hundertundzweiundvierzigster Brief.
Rica an Usbek in ***.

Beiliegender Brief ist mir gestern von einem Gelehrten zugegangen; ich übersende ihn Dir wegen seiner Merkwürdigkeit.

»Mein Herr,

»Vor einem halben Jahre habe ich die Erbschaft eines sehr reichen Onkels angetreten; er hat mir fünf- oder sechshunderttausend Livres und ein prächtig eingerichtetes Haus hinterlassen. Es ist eine Lust, Vermögen zu haben, wenn man es wohl zu gebrauchen weiß. Ehrgeiz besitze ich nicht, und Vergnügungen haben keinen Reiz für mich; fast immer halte ich mich abgeschlossen in meiner Studierstube, wo ich das Leben eines Gelehrten führe. Das ist die Stätte, wo man einen wißbegierigen Liebhaber des ehrwürdigen Altertums findet.

»Als mein Onkel die Augen geschlossen hatte, wäre es mein größter Wunsch gewesen, ihn mit allen Ceremonien, die von den alten Griechen und Römern beobachtet wurden, bestatten zu lassen; aber leider besaß ich damals weder Thränenkrüge, noch Urnen, noch antike Lampen.

»Aber seitdem habe ich mich mit solchen kostbaren Raritäten wohl versehen. Vor einigen Tagen machte ich mein silbernes Tafelgeschirr zu Gelde, um dafür eine irdene Lampe zu kaufen, deren sich vor Zeiten ein stoischer Philosoph bedient hat. Ich habe mich aller Spiegel entäußert, mit denen mein Onkel fast jede Wand in seiner Wohnung bedeckt hatte, um mir einen kleinen, ein wenig zersprungenen Handspiegel zu verschaffen, der einst das Eigentum Virgils gewesen ist; ich bin entzückt, jetzt meine eigenen Züge an der Stelle zu erblicken, wo sich das Antlitz des Schwans von Mantua gespiegelt hat. Und noch andre Kostbarkeiten habe ich erworben. Für hundert Louisd'or bin ich in den Besitz von fünf oder sechs Kupfermünzen gelangt, die vor zweitausend Jahren in Umlauf waren. Meines Wissens befindet sich jetzt kein einziges Stück Möbel in meinem Hause, das nicht aus der Zeit vor dem Sturze des römischen Reiches stammt. Ich besitze eine kleine Bibliothek sehr wertvoller und kostbarer Manuskripte, und obwohl ich mir die Augen verderbe, wenn ich sie lese, bediene ich mich ihrer doch viel lieber, als der gedruckten Ausgaben, die nicht so korrekt und in jedermanns Händen sind. Fast niemals gehe ich ins Freie; aber trotzdem habe ich eine maßlose Leidenschaft, alle alten Heerwege der Römerzeit zu kennen. Ein solcher, den ein Prokonsul von Gallien vor ungefähr zwölfhundert Jahren Dies ist ein Irrtum, den ein so enthusiastischer Verehrer des Altertums schwerlich begangen haben würde. »Vor circa 1200 Jahren«, also etwa um 500, hatte Gallien schon aufgehört zu existieren; denn Syagrius, der letzte römische Prokonsul, war 486 enthauptet worden. Chlodwig hatte zwar im Jahre 510 vom Kaiser Anastasius den Titel eines römischen Konsuls angenommen, war aber unabhängiger König der Franken. – Über die großartigen Straßenbauten der Römer vergl. Guhl und Koner (Leben der Gr. u. R., S. 398 ff.). Die Wegesäulen (milliaria) waren in Abständen von 1000 Schritten aufgestellt und nicht selten mit Ruheplätzen für müde Wanderer versehen. anlegen ließ, führt nicht weit von meinem Landhause vorüber, und so oft ich hinausfahre, ermangle ich niemals, denselben zu benutzen, wiewohl er sehr unbequem ist und mich zu einem Umweg von mehr als einer Meile nötigt. Aber ich bin empört, wenn ich längs desselben in regelmäßigen Zwischenräumen die hölzernen Wegweiser sehe, welche die Entfernung bis zu den nächsten Städten angeben; es setzt mich in Verzweiflung, diese jammervollen Pfähle zu erblicken, wo ehemals römische Meilensäulen standen; ganz gewiß werde ich diese durch meine Erben wiederherstellen lassen und sie in meinem Testament zu dieser Ausgabe verpflichten. Sollten Sie, mein Herr, über ein persisches Manuskript zu verfügen haben, so würden Sie mir viel Vergnügen bereiten, wenn Sie es mir überlassen wollten; ich werde Ihnen jeden Preis bezahlen, den Sie dafür verlangen mögen, und Sie sollen obendrein noch einige meiner Werke erhalten, die Ihnen beweisen werden, daß ich kein unnützes Mitglied der Gelehrtenrepublik bin. Unter andren wird Ihnen eine Abhandlung von Interesse sein, in welcher ich den Nachweis liefere, daß der Kranz, den man ehemals bei den Triumphzügen als Ehrenschmuck trug, aus Eichenlaub, nicht aus Lorbeer gewunden war. Einer andren werden Sie Ihre Bewunderung nicht versagen können, worin ich durch gelehrte Konjekturen aus den wichtigsten griechischen Schriftstellern demonstriere, daß Kambyses am linken, nicht am rechten Bein verwundet wurde. In einer dritten thue ich dar, daß bei den Römern eine niedrige Stirn als besondere Schönheit galt. Ferner werde ich Ihnen auch noch einen Quartband übersenden, der die Erläuterung eines Verses im sechsten Buche von Virgils Aeneide enthält. Alles dies werden Sie erst in einigen Tagen empfangen; für den Augenblick muß ich mich darauf beschränken, Ihnen das beiliegende Fragment eines alten griechischen Mythologen mitzuteilen, welches bisher noch nicht veröffentlicht ist; ich habe es im Staube einer Bibliothek entdeckt. Ich muß hier abbrechen, da ich eine wichtige Arbeit unternommen habe; es handelt sich darum, eine schöne Stelle in dem Naturforscher Plinius wiederherzustellen, welche die Abschreiber des fünften Jahrhunderts kläglich verunstaltet haben. Ich bin, u. s. w.

Fragment eines alten Mythologen.

»Auf einer Insel unweit der Orkaden kam ein Knabe zur Welt dessen Vater der Windgott Aeolus, dessen Mutter eine Nymphe Caledoniens Caledonien war der römische Name für Schottland, die Heimat des Finanzzauberers John Law. Über den Wind, welchen er den Franzosen vormachte, vergl. Brief 138. Dies Fragment ist eine Satire auf sein System. war. Die Sage berichtet von ihm, daß er mit Hilfe seiner Finger ganz allein das Zählen erlernte; und als vierjähriges Kind soll er die Metalle schon so vollkommen unterschieden haben, daß er, als ihm seine Mutter einst statt eines goldenen Ringes einen solchen von Messing geben wollte, die Täuschung augenblicklich erkannte und denselben zu Boden warf.

Als er heranwuchs, lehrte ihn sein Vater das Geheimnis, die Winde in einen Schlauch einzuschließen; in solchen Schläuchen verkaufte er sie alsdann an alle Reisenden. Doch da diese Waare in seiner Heimat keine große Nachfrage fand, so ging er auf Reisen und durchschweifte mit dem blinden Gott des Zufalls die Welt.

»Unterwegs erfuhr er, daß in Bätica Baetica, so benannt nach dem Hauptflusse Baetis, dem jetzigen Guadalquivir, war unter den Römern die südlichste Provinz in Spanien. Hier ist natürlich Frankreich darunter zu verstehen. alles vom Glanz des Goldes voll sei, wodurch er bewogen wurde, dies Land schleunigst aufzusuchen. Er wurde von Saturn, welcher damals noch daselbst herrschte, sehr ungnädig aufgenommen; nachdem aber dieser Gott die Erde verlassen hatte, postierte er sich an allen Straßenecken, wo er unaufhörlich mit heiserer Stimme schrie: ›Hört mich, ihr Leute von Bätica! Ihr haltet euch für reich, weil ihr Gold und Silber habt! Ich bedaure euren Wahn. Traut meinem Wort und verlaßt das Land der schnöden Metalle; folgt mir in das Reich der Phantasie, und ich verspreche euch Schätze, über die ihr selbst erstaunen sollt.‹ Hierauf öffnete er eine große Anzahl der Schläuche, die er mitgebracht hatte und verteilte seine Waare an alle, die danach gelüstete.

»Tags darauf fand er sich wieder an derselben Straßenecke ein und rief: »Leute von Bätica, wollt ihr reich werden? So bildet euch einfach ein, daß ich sehr reich bin, und daß ihr es gleichfalls seid; stellt euch jeden Morgen vor, daß sich euer Vermögen über Nacht verdoppelt hat; steht alsdann auf, und wenn ihr Gläubiger habt, so bezahlt sie mit dem, was ihr euch eingebildet habt, und sagt ihnen, sie sollen sich dasselbe einbilden.‹

»Noch einigen Tagen erschien er wiederum und sprach folgendermaßen: ›Leute von Bätica! Ich sehe wohl, daß eure Phantasie nicht mehr so lebhaft ist wie in den ersten Tagen; darum überlaßt euch meiner Führung. Jeden Morgen will ich einen Anschlagzettel vor euch aufhängen, der wird euch eine Quelle des Reichtums sein. Ihr werdet nur vier Wörter darauf lesen, aber vier höchst bedeutungsvolle; denn sie sollen die Mitgift eurer Weiber, den Pflichtteil eurer Kinder und die Anzahl eurer Bedienten bestimmen. Und was euch betrifft,‹ wandte er sich zu dem Volkshaufen, der ihm am nächsten stand, ›was euch betrifft, meine lieben Kinder (bei diesem Namen darf ich euch ja nennen; denn ihr verdankt mir eure Wiedergeburt), so soll mein Anschlagzettel auch über die Pracht eurer Fuhrwerk, über den Aufwand bei euren Festen wie über die Anzahl und die Einnahmen eurer Mätressen genaue Anordnungen enthalten.‹

»Etliche Tage später kam er ganz atemlos dahergelaufen, und außer sich vor Zorn schrie er von seiner gewohnten Ecke: ›Ihr Leute von Bätica, hatte ich euch nicht den Rat erteilt, eure Phantasie anzustrengen? Warum thut ihr es nicht? Nun gut, jetzt befehle ich es euch.‹ Damit ließ er sie stehen und ging davon. Aber er besann sich eines Besseren und kehrte wieder um. ›Wie ich erfahre,« sagte er, »sind einige unter euch schändlich genug, ihr Gold und Silber zu behalten. Mit dem Silber möchte es noch hingehen; aber Gold … Gold! O, das versetzt mich in eine Entrüstung …! Ich schwöre euch bei meinen heiligen Schläuchen, daß ich sie streng bestrafen werde, wenn sie es mir nicht bringen.‹ Dann fügte er mit dem Ausdruck freundlichster Überredung hinzu: ›Meint ihr, ich wolle diese elenden Metalle für mich behalten, wenn ich sie von euch verlange? Habe ich euch meine Ehrlichkeit nicht vor wenigen Tagen bewiesen, indem ich euch von denen, die ihr mir brachtet, augenblicklich die Hälfte zurückgab?‹

»Am folgenden Tage konnte man ihn von weitem erblicken und vernahm, wie er sich mit sanfter, süßer Stimme einzuschmeicheln suchte. ›Leute von Bätica,‹ hörte man ihn sprechen, ›es ist mir zu Ohren gekommen, daß ihr einen Teil eurer Schätze in fremden Ländern Laws Zettelbank, vom Regenten zur königlichen erklärt, hatte den Senegal-Handel übernommen, das Privilegium der von Colbert gegründeten indischen Compagnie erhalten und war mit der Mississippi-Gesellschaft in Verbindung getreten, welcher Louisiana von der Regierung überlassen wurde, um daselbst für die Aktionäre Gold- und Silberbergwerke anzulegen. habt. Ich bitt' euch, laßt sie mir kommen! Es wird mir ein Vergnügen bereiten, und ich werde euch ewig dafür dankbar sein.‹

»Der Sohn des Aeolus hatte es mit Leuten zu thun, die nicht besonders zum Lachen aufgelegt waren; jetzt aber konnten sie ihr Gelächter nicht unterdrücken, und er kehrte in großer Verwirrung wieder um. Doch faßte er wieder Mut und wagte eine kleine Bitte. ›Ich weiß, daß ihr kostbare Steine habt; im Namen Jupiters, entledigt euch derselben! Nichts ist mehr geeignet, euch an den Bettelstab zu bringen, als solche Dinge. Schafft sie ab, sage ich euch! Wenn ihr es nicht selbst vermögt, so werde ich euch vorzügliche Geschäftsleute zuweisen. Welche Menge von Reichtümern wird bei euch in Umlauf kommen, wenn ihr thut, was ich euch rate! Ja, ich verspreche euch, ihr sollt dafür den allerreinsten Wind aus meinen Schläuchen erhalten.‹

»Endlich stieg er auf ein Marktschreiergerüst und rief mit zuversichtlicherer Stimme: ›Leute von Bätica! Ich habe euren jetzigen glücklichen Zustand mit demjenigen verglichen, in welchem ihr euch zur Zeit meiner Ankunft befandet, und ich sehe, daß ihr jetzt das reichste Volk der Erde seid. Aber um euer Glück voll zu machen, gestattet mir, daß ich euch die Hälfte eurer Habe wegnehme.‹ Mit diesen Worten verschwand der Sohn des Aeolus auf leichten Flügeln und ließ seine Zuhörer in unaussprechlicher Bestürzung zurück. Dies veranlaßte ihn, am nächsten Tage wiederzukehren und sie folgendermaßen anzureden: ›Ich habe gestern bemerkt, daß meine Worte euer höchstes Mißfallen erregten. Nun gut, nehmt an, ich hätte gar nicht gesprochen. Es bleibt nichts übrig, als zu andren Mitteln zu greifen, um das Ziel, das ich mir gesteckt habe, zu erreichen. Laßt uns alle unsre Reichtümer an dem nämlichen Orte zusammenbringen. Wir können es ja mit leichter Mühe; denn sie nehmen keinen großen Raum ein.‹ … Es geschah, und alsbald verschwanden drei Viertel davon.«

Paris, am 9. des Mondes Chahban, 1720.



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