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Sechsunddreißigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Der Kaffee ist in Paris ein sehr beliebtes Getränk; es giebt hier eine große Zahl von öffentlichen Häusern, wo er ausgeschenkt wird. In einigen dieser Lokale erzählt man sich Neuigkeiten, in anderen spielt man Schach. In einem derselben bereitet man den Kaffee auf solche Art, daß jeder, der ihn trinkt, dadurch geistreich wird; wenigstens verläßt nie jemand das Lokal, Das Café Procope, in der Rue de l'Ancienne-Comédie, ist das älteste Café in Paris und wurde von Voltaire, Rousseau und Diderot oft besucht. Es besteht noch heut. Aus Voltaires Zeit besitzen wir folgende Schilderung davon: »Das Café de Procope wurde auch Antre (Höhle) de Procope genannt, weil es selbst bei Tage sehr dunkel und Abends schlecht erleuchtet war, und weil man daselbst oft eine Gesellschaft von dürren, bleichen Poeten erblickte, die einigermaßen wie Erscheinungen aussahen.« (Longchamp et Wagnière, Mémoires sur Voltaire.) ohne zu glauben, daß er viermal soviel Geist habe, als bei seinem Eintritt.

Anstößig aber ist es mir bei diesen Schöngeistern, daß sie sich ihrem Vaterlande nicht nützlich machen, sondern ihre Talente mit kindischem Zeug unterhalten. Bei meiner Ankunft in Paris traf ich sie zum Beispiel in der Hitze eines Streites, wie man ihn sich kleinlicher nicht vorstellen kann. Es handelte sich nämlich um den Ruhm eines alten griechischen Dichters, Homer. Aus jenem Streit sind die Namen von Boileau, Perrault, Lamotte, Madame Dacier u. s. w. bekannt. dessen Geburtsstadt sowohl wie sein Todesjahr seit zweitausend Jahren unbekannt geblieben sind. Beide Parteien gestanden zu, daß er ein vortrefflicher Dichter sei; es handelte sich nur darum, ob man ihm ein bißchen mehr oder weniger Verdienst zuerkennen solle. Jeder wollte seinen Zoll entrichten: aber unter diesen Ruhmverleihern gaben die einen besseres Gewicht als die anderen – und darum drehte sich der Streit. Es ging dabei mit großer Lebhaftigkeit her; denn auf beiden Seiten sagte man sich frei heraus so beleidigende Grobheiten und erging sich in so bitterem Spott, daß ich nicht weniger die Art ihres Streites als den Gegenstand desselben bewunderte. Man würde übel anlaufen, sagte ich zu mir, wenn man die Unbesonnenheit hätte, vor einem dieser Verteidiger des griechischen Dichters den guten Ruf eines braven Bürgers anzutasten; und ich möchte glauben, daß dieser Eifer, welcher die Ehre der Toten mit so viel Zartgefühl behütet, sich hell entflammen würde, wenn die Ehre der Lebenden ihrer Verteidigung bedürfte. Aber wie dem auch sei, fügte ich hinzu, Gott bewahre mich, daß ich mir niemals die Feindschaft der Richter jenes Sängers zuziehe, den seine zweitausendjährige Grabesruhe nicht hat vor so unversöhnlichem Hasse beschützen können! Jetzt fechten sie nur mit der Luft; aber was sollte daraus werden, wenn ihre Wut durch die Gegenwart eines wirklichen Feindes erregt würde?

Die genannten Leute disputieren in gewöhnlicher Sprache, und man muß sie von einer anderen Gattung von Streitlustigen unterscheiden, welche sich einer barbarischen Sprache bedienen, wodurch die Wut und die Halsstarrigkeit der Kämpfenden scheinbar noch gesteigert wird. In einzelnen Stadtteilen sieht man diese Menschenart in schwarzen, dichtgedrängten Massen versammelt. Sie nähren sich von Haarspaltereien; sie leben von dunklen Klügeleien und von Trugschlüssen. Dies ist ein einträgliches Geschäft, obwohl man eigentlich dabei verhungern müßte. Man hat es erlebt, wie eine ganze Nation, die aus ihrem Lande vertrieben war, über die Meere segelte, um sich in Frankreich niederzulassen; sie brachte nichts mit sich, um den Kampf mit der Lebensnot zu bestehen, als das furchtbare Talent, zu disputieren. Lebewohl.

Paris, am Letzten des Mondes Zilhageh, 1713.



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