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Vierzehnter Brief.
Usbek an denselben.

Da die Zahl des Volkes sich fortgesetzt vermehrte, so hielten es die Troglodyten für angebracht, sich einen König zu wählen. Sie kamen darin überein, daß man die Krone dem Gerechtesten anbieten müsse; und aller Augen richteten sich auf einen durch Alter und langjährige Tugend ehrwürdigen Greis. Er aber hatte ihrer Versammlung nicht beiwohnen wollen, sondern hatte sich mit tiefbetrübtem Herzen in sein Haus zurückgezogen.

Als nun eine Gesandtschaft bei ihm erschien, um ihn von seiner Wahl zu benachrichtigen, antwortete er: »Das wolle Gott verhüten, daß ich das Unrecht begehe, die Meinung der Troglodyten zu bestärken, es gebe unter ihnen keinen Gerechteren als mich! Ihr bietet mir die Krone, und wenn ihr darauf besteht, so muß ich sie wohl annehmen. Aber seid versichert, daß der Schmerz mich töten wird, heut die Troglodyten, die bei meiner Geburt ein freies Volk waren, in der Knechtschaft zu sehen.« Als er dies gesagt hatte, vergoß er einen Strom von Thränen. »O Tag des Unglücks!« rief er aus; »warum habe ich das erleben müssen?« Dann fuhr er mit strengem Tone fort: »Ich sehe wohl, wie es steht, o Troglodyten! Eure Tugend beginnt euch lästig zu werden. In eurem jetzigen Verhältnis, wo niemand über euch gebietet, müßt ihr tugendhaft sein, ob ihr es wollen mögt oder nicht; denn ohne dies würdet ihr nicht bestehen können, sondern dem traurigen Schicksal eurer Vorfahren verfallen. Aber dies Joch scheint euch zu hart. Lieber wollt ihr einem Fürsten dienen und seinen Gesetzen gehorchen, die weniger streng sind als eure Sitten. Ihr wißt, daß ihr dann euren Ehrgeiz werdet befriedigen, Reichtümer erwerben und in weichlicher Wollust dahinleben können, und daß ihr der Tugend nicht mehr bedürfen werdet, wenn ihr nur keine großen Verbrechen begeht.« Er hielt einen Augenblick inne, und seine Thränen brachen noch reichlicher hervor. »Und was erwartet ihr von mir? Wie kann ich einem Troglodyten Befehle erteilen? Soll er tugendhaft handeln, weil ich es ihm befehle, da er es doch, nach seinem natürlichen Triebe, ebensowohl ohne mich thun würde? O Troglodyten, ich stehe am Ende meiner Tage, das Blut in meinen Adern ist schon kalt geworden, und bald werde ich eure verewigten Ahnen wiedersehen: warum fordert ihr, daß ich sie betrübe und ihnen die Nachricht bringe, daß ich euch unter einem andren Joche, als unter dem der Tugend zurückgelassen habe?« Die Geschichte der Troglodyten enthält im Keime die Ideen, durch welche Rousseau später berühmt geworden ist; aber dieser bestreitet Montesquieu's auch später im »Geist der Gesetze« (III, 3) entwickelte Ansicht, daß nur die Republiken der Tugend als des grundlegenden Prinzips bedürfen; er hält dieselbe in jedem wohl geordneten Staate für unentbehrlich. (Vergl. Du contrat social, III, 4).

Erzerum, am 10. des zweiten Mondes Gemmadi, 1711.



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