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Neunundsechzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Du hättest es Dir gewiß nicht träumen lassen, daß ich in der Metaphysik noch Fortschritte gemacht habe; aber Du wirst davon überzeugt sein, wenn die folgende Ergießung meiner Philosophie über Dich ergangen ist.

Die verständigsten Philosophen, welche über das Wesen Gottes nachgedacht haben, erklären ihn für unbedingt vollkommen; aber sie haben mit dieser Vorstellung den größten Mißbrauch getrieben. Sie haben ein Verzeichnis sämtlicher verschiedener Arten von Vollkommenheit, die der Mensch zu haben oder zu denken vermag, aufgestellt und ihren Begriff von der Gottheit damit überladen, vergaßen aber dabei, daß diese Attribute sich oftmals gegenseitig ausschließen und nicht einem und demselben Gegenstande anhaften können, ohne daß eins das andere aufhöbe.

Nach den Erzählungen abendländischer Dichter soll einmal ein Maler, Zeukis aus Heraklea in Unteritalien (um 400 vor Chr. G.), erhielt von den Agrigentinern fünf der schönsten Jungfrauen als Modelle, da er die Helena malen wollte. Ähnliches wird von Praxiteles erzählt, als er die Venus von Knidos darstellte. als er die Göttin der Schönheit im Bilde darstellen wollte, die schönsten Griechinnen versammelt und von jeder die lieblichsten Reize entlehnt haben, um daraus ein Ganzes zu schaffen, das als würdiges Bildnis der schönsten aller Göttinnen gelten könnte. Hätte jemand daraus den Schluß gezogen, sie sei zugleich blond und brünett, schwarzäugig und blauäugig, schmiegsam und stolz, so würde er sich lächerlich gemacht haben.

Oft ermangelt Gott einer Vollkommenheit, von der eine große Unvollkommenheit untrennbar wäre; aber er ist immer nur durch sich selbst beschränkt; er ist seine eigene Notwendigkeit. So kann Gott, obgleich er allmächtig ist, sein Wort nicht brechen und die Menschen nicht täuschen. Oft liegt sogar das Unvermögen nicht in ihm selbst, sondern in der Natur relativer Verhältnisse; und das ist die Ursache, warum er das Wesen der Dinge nicht verändern kann. Vergl. zu diesem Abschnitt Spinoza's Ethik, I. Teil, besonders Thesis 11, 17, 33.

Man darf sich daher auch nicht wundern, daß einige unserer Schriftgelehrten gewagt haben, das unendliche Vorherwissen Gottes zu leugnen, da es mit seiner Gerechtigkeit nicht vereinbar sei. Berkeley polemisiert (in seinem Minute Philosopher, IV, 17) gegen die Ansicht derer, welche Gottes unbedingtes Vorherwissen bestreiten, und kommt dabei zu dem Schlusse: »Indem sie so Gottes Attribute leugneten, leugneten sie in der That seine Existenz.«

So gewagt dieser Gedanke auch sein mag, weiß ihn die Metaphysik doch trefflich zu unterstützen. Nach ihren Grundsätzen ist es nicht möglich, daß Gott die Dinge vorhersehe, welche von der Entschließung freier Ursachen abhängig sind, weil das, was nicht geschehen ist, nicht existiert, folglich auch nicht gewußt werden kann; denn das Nichts hat keine Eigenschaften, ist mithin nicht wahrnehmbar. Gott kann keinen Willen lesen, der nicht vorhanden ist, noch vermag er etwas in der Seele zu entdecken, was darin keine Existenz hat; denn solange sie sich noch nicht entschieden hat, giebt es diese Entscheidung nicht in ihr.

Der Geist ist der Schmied seiner Entschlüsse; aber es giebt Fälle, wo er so unschlüssig ist, daß er nicht weiß, wozu er sich entschließen soll. Oft sogar entschließt er sich nur, um von seiner Freiheit Gebrauch zu machen, so daß Gott diesen Entschluß weder in der Thätigkeit der Seele noch in der Einwirkung, welche die Dinge auf sie ausüben, vorhersehen kann.

Wie vermöchte Gott Wirkungen vorherzusehen, welche den Willen freier Ursachen zur Bedingung haben? Er könnte es nur auf zweierlei Weise: entweder auf dem Wege der Vermutung, was aber seiner Allwissenheit widersprechen würde; oder er müßte wissen, daß sie als notwendige Folgen sich unfehlbar aus einer Ursache ergeben werden, welche sie ebenso unfehlbar hervorrufen muß; dies aber würde noch widersprechender sein; denn die Seele wäre dann nur in der Voraussetzung frei; in Wahrheit aber hätte sie nicht mehr Freiheit, als eine Billardkugel, die sich bewegt, wenn sie von einer andern gestoßen wird. Es ist auffallend, daß Montesquieu in diesem Briefe die Freiheit des menschlichen Willens voraussetzt, obwohl der Schreiber desselben als ein Muhamedaner naturgemäß Fatalist sein sollte. Bayle war vor ihm schon viel weiter gegangen. Hobbes, der ihn jedenfalls beeinflußt hat, sagt in seinem Buche über Freiheit, Notwendigkeit und Zufall, daß das göttliche Vorherwissen allein genügen würde, um die Notwendigkeit alles Geschehens zu bestimmen. Leibnitz bekämpft Hobbes (Theodicee, Betrachtungen über Hobbes' Buch), und Montesquieu scheint zwischen beiden Denkern zu schwanken.

Glaube jedoch nicht, daß ich Gottes Wissen für begrenzt halte. Da er die Geschöpfe nach seinem Sinne handeln läßt, so weiß er alles, was er wissen will. Aber obwohl er alles sehen kann, macht er doch nicht immer von dieser Fähigkeit Gebrauch, sondern gewöhnlich läßt er dem Geschöpfe die Freiheit, zu handeln oder nicht zu handeln, auf daß es zwischen Gut und Böse die freie Wahl habe; dies ist der Grund, warum er sich seines Rechtes begiebt, auf dasselbe bestimmend einzuwirken. Wenn er aber etwas wissen will, so weiß er es stets; denn er braucht nur zu wollen, daß es nach seiner Absicht geschehe, und den Willen der Geschöpfe nach seinem eigenen zu lenken. Das, was nach seinem Willen geschehen soll, sondert er auf solche Art aus von dem, was bloß möglich ist, indem er durch sein Machtgebot die künftigen Entschlüsse der Geister bestimmt und sie der Freiheit, zu handeln oder nicht zu handeln, welche er ihnen verliehen hat, beraubt.

Ich möchte, wenn man das Unvergleichliche überhaupt in Vergleich ziehen kann, an das Beispiel eines Monarchen erinnern, der nicht weiß, was sein Gesandter in einer wichtigen Angelegenheit unternehmen wird: will er es dennoch wissen, so braucht er ihm nur zu befehlen, sich so oder so zu verhalten, und er kann vorausbestimmen, daß alles geschehen wird, wie er es geplant hat.

Der Koran und die Bücher der Juden erheben immer neue Einwände gegen das Dogma von dem absoluten Vorherwissen. Gott zeigt sich dort überall in Unkenntnis über die künftigen Entschlüsse der Geister, und dies scheint die erste Wahrheit zu sein, welche Moses die Menschen gelehrt hat.

Gott setzt Adam in das irdische Paradies, aber unter dem Vorbehalt, daß er von einer gewissen Frucht nicht essen soll: ein sinnloses Verbot bei einem Wesen, welches die künftigen Entschlüsse der Seelen vorauswüßte; denn ein solches Wesen macht ja seine Gaben lächerlich, indem es Bedingungen an dieselben knüpft. Nach einer muhamedanischen Erzählung fragte Adam: »Wieviele Jahre vor meiner Erschaffung war das Gesetz geschrieben?« »Vierzig,« antwortete Moses. – »Und stehen nicht die Worte darin,« fuhr Adam fort: »Und Adam empörte sich wider seinen Herrn und sündigte?« Als Moses dies einräumte, schloß Adam: »Wie kannst Du mich also tadeln, weil ich gethan habe, wovon Gott vierzig Jahre vor meiner Erschaffung schrieb, daß ich es thun werde?« (Sale's Einleitung zum Koran, S. 164; citiert von Shelley in den Anmerkungen zu »Queen Mab«.) Das ist gerade, als ob jemand, dem die Eroberung von Bagdad bekannt war, zu einem andren gesagt hätte: »Ich gebe Dir tausend Thaler, wenn Bagdad nicht genommen ist.« Würde er da nicht einen schlechten Witz machen?

Mein lieber Rhedi, wozu braucht man soviel Philosophie? Gott thront so hoch über uns, daß wir nicht einmal sein Gewölk wahrnehmen. Wir kennen ihn nur durch seine Gebote. Er ist unermeßlich, geistig, unendlich. Möge seine Größe uns an unsere Ohnmacht gemahnen! Sich allezeit demütigen, heißt ihn allezeit anbeten.

Paris, am letzten des Mondes Chahban, 1714.



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