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Hundertundeinundfünfzigster Brief.
Solim an Usbek in Paris.

Wenn ich noch länger stillschwiege, so würde ich ebenso schuldig sein wie die ganze Verbrecherschar, die in Deinem Serail ihr Wesen treibt.

Ich besaß das Vertrauen des Ober-Eunuchen, des treuesten unter Deinen Sklaven. Als er sich seinem Ende nahe fühlte, ließ er mich rufen und richtete an mich die folgenden Worte: »Ich sterbe; aber da ich aus dem Leben scheide, ist es mein einziger Kummer, daß meine letzten Blicke die Frauen meines Gebieters auf der Bahn des Verbrechens gesehen haben. Möge die Kraft des Himmels ausreichen, ihn vor allem Unglück zu bewahren, das ich ahne! Möchte doch nach meinem Tode mein drohender Schatten imstande sein, jenen Treulosen zu erscheinen, sie an ihre Pflicht zu erinnern und sie in Furcht zu setzen! Nimm hier die Schlüssel zu den schrecklichen Gemächern; überbringe sie dem ältesten Schwarzen. Aber wenn er es nach meinem Tode an Wachsamkeit fehlen läßt, so vergiß nicht, Deinem Herrn davon Kunde zu geben.« Mit diesen Worten ist er in meinen Armen verschieden.

Ich habe Kenntnis von allem, was er Dir kurz vor seinem Tode über die Aufführung Deiner Frauen geschrieben hat. Im Serail liegt ein Brief, der den Schrecken verbreitet haben würde, wenn man ihn geöffnet hätte; das folgende Schreiben von Deiner Hand ist drei Meilen von hier aufgefangen worden. Ich weiß nicht, wie es zugeht, alles nimmt eine unglückliche Wendung.

Indessen haben Deine Frauen die letzten Grenzen der Zurückhaltung überschritten. Seit dem Tode des Ober-Eunuchen scheint ihnen alles erlaubt zu sein; Roxane allein ist ihrer Pflicht treu geblieben und lebt in Zucht und Sitte. Von Tag zu Tage nimmt die Entsittlichung zu. Jener Ausdruck ernster und strenger Tugend, der ehemals die Züge Deiner Frauen beherrschte, ist aus denselben verschwunden; an seine Stelle ist eine ungewohnte Heiterkeit getreten, die nach meiner Ansicht von einer neuen Befriedigung unfehlbares Zeugnis giebt. Bis in die geringfügigsten Kleinigkeiten läßt es sich bemerken, daß sie sich Freiheiten nehmen, wie sie ihnen bisher nicht bekannt waren. Selbst unter Deinen Sklaven herrscht eine gewisse Gleichgültigkeit gegen ihre Pflicht, eine gewisse Lässigkeit in der Beobachtung der Hausordnung, die mich überrascht; jener glühende Eifer, Dir zu dienen, der sonst das ganze Serail zu beseelen schien, erfüllt sie nicht mehr.

Deine Frauen haben acht Tage auf dem Lande zugebracht, und zwar in einem Deiner abgelegensten Landhäuser. Wie es heißt, hat sich der Sklave, welcher mit der Obhut derselben betraut war, bestechen lassen, und am Tage vor ihrer Ankunft soll er zwei Männer in einer steinernen Wandnische des Hauptzimmers versteckt haben, von wo sie am Abend, als wir uns zurückgezogen, hervorgekommen seien. Der alte Verschnittene, welcher nunmehr an unserer Spitze steht, ist ein Schwachkopf, der alles glaubt, was man ihm einredet.

Ich bin ergrimmt über so viel schändlichen Verrat und dürste nach Rache. Wollte der Himmel, daß Du mich fähig erachtetest, zum Heile Deines Dienstes die Herrschaft zu übernehmen, so verspreche ich Dir, daß Deine Frauen, wenn nicht tugendhaft, wenigstens treu sein sollten.

Im Serail zu Ispahan, am 6. des ersten Mondes Rebiab, 1719.



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