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Hundertundvierzehnter Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Die Welt, mein lieber Rhedi, ist nicht unwandelbar; selbst die Himmel sind es nicht. Die Astronomen sind Augenzeugen von allen ihren Veränderungen, ganz natürlichen Wirkungen der allgemeinen Bewegung der Materie. Daß der Erde ein allmähliches Ersterben der lebenschaffenden Kräfte, daß mithin der Menschheit völliger Untergang bevorsteht, darf man nach unsrer Kenntnis von der Natur des Erdballs als gewiß voraussetzen. Wir erinnern uns, zu London in Newton Hall einen Vortrag von Pierre Laffitte, dem französischen Nachfolger Comte's als Haupt der Positivisten-Gemeinde, gehört zu haben, in welchem der Redner eine lebendige Perspektive auf die unvermeidliche Vereisung unsres Planeten und die Vernichtung unsres Geschlechts eröffnete. Aber wir wissen durchaus nicht, wann solches geschehen wird; wir wissen nicht, wie Roscher (Grundlagen der Nationalök. § 265) sagt, ob wir uns im ersten oder letzten Zehntel der Geschichte der Menschheit befinden; deswegen haben wir kein Recht, Veränderungen im Völkerleben als ein jetzt schon vor sich gehendes Absterben der Erde zu betrachten. Kant, in seiner Abhandlung: »Die Frage: Ob die Erde veralte? physikalisch erwogen« (Werke, Bd. 7, Kirchmann) erwähnt zwar große physische Umwandlungen, die sich in historischen Zeiten vollzogen haben, aber ist mit seiner Antwort sehr vorsichtig und läßt die Frage offen.

Die Erde ist den nämlichen Gesetzen der Bewegung unterworfen wie die anderen Planeten; in ihrem Inneren wühlt ein immerwährender Kampf ihrer Elemente; Meer und Land scheinen sich ewig zu bekriegen; in jedem Augenblicke entstehen neue Verbindungen.

Auf einem so dem Wechsel ausgesetzten Wohnplatze muß der Zustand der Menschen ebenso unsicher sein. Hunderttausend Ursachen können in beständiger Thätigkeit sein, deren geringste sie zu verderben und, noch gewisser, ihre Zahl zu vermehren oder zu vermindern imstande ist.

Ich schweige von jenen außergewöhnlichen Katastrophen, deren die Geschichtschreiber so häufig erwähnen, Katastrophen, welche ganze Städte und Reiche zerstört haben; es giebt deren ganz allgemeine, welche das menschliche Geschlecht oftmals an den Rand der Vernichtung gebracht haben.

Die Geschichte ist voll von solchen allgemeinen Seuchen, die einmal über das andere den Erdkreis verwüstet haben. Unter andren berichtet sie von einer, welche so gewaltsam auftrat, daß sie selbst die Wurzeln der Pflanzen ansteckte und in der ganzen bekannten Welt bis zum Reiche Cathay um sich griff; ein Grad mehr von dem verzehrenden Gifte hätte vielleicht an einem einzigen Tage die ganze menschliche Natur vernichtet. Der asiatischen Pest, die in Deutschland »schwarzer Tod«, in Frankreich »blauer Tod« (Ursprung des Fluches »Morbleu!«), in England »fauler Tod« genannt wurde, erlagen in Europa im Laufe von drei Jahren (1348–1350) über fünfundzwanzig Millionen Menschen. Doch ist es eine Thatsache, daß bei frischen, kräftigen Nationen der Menschenverlust sehr schnell wieder ersetzt wird. (Vergl. Roscher, Grundl. der Nat. § 252.)

Noch sind nicht zwei Jahrhunderte verflossen, seit in Europa. Asien und Afrika die beschämendste aller Krankheiten Die Lustseuche, die vermutlich von den Spaniern aus der neuen Welt gebracht wurde. aufgetreten ist. In kurzer Zeit hatte sie sich erstaunlich verbreitet, und es wäre um die Menschen geschehen gewesen, wenn sie mit derselben Heftigkeit weiter um sich gefressen hätte. Von Geburt an mit Leiden überbürdet, würden sie die schweren Pflichten des Gemeinlebens nicht zu tragen vermocht haben und elend umgekommen sein.

Wie, wenn das Gift ein wenig stärker gewesen wäre? Und ohne Zweifel wäre es stärker geworden, hätte man nicht das Glück gehabt, ein so kräftiges Heilmittel Quecksilber (Mercur). wie das entdeckte zu finden. Diese Krankheit, welche die Zeugungsteile ergreift, würde vielleicht ihren Angriff gegen die Zeugung selbst gerichtet haben.

Aber warum von dem Untergange reden, der das menschliche Geschlecht möglicherweise hätte ereilen können? Ist er nicht in der That eingetreten, und hat die Sintflut es nicht bis auf eine einzige Familie vernichtet?

Begreifen wohl diejenigen, welche Kenntnis von der Natur und eine vernünftige Vorstellung von Gott haben, daß die Materie und alles Geschaffene erst sechstausend Jahre alt sein soll, und daß Gott seine Werke eine ganze Ewigkeit aufgeschoben und erst gestern von seiner Schaffenskraft Gebrauch gemacht habe? Warum that er es nicht früher? Weil er es nicht konnte, oder weil er es nicht wollte? Aber konnte er es nicht zu einer Zeit, so konnte er es auch nicht zu einer anderen. Also hat er es nicht früher gewollt. Aber bei Gott giebt es kein Fortschreiten von einem Entschluß zum anderen, sondern wenn man annimmt, daß er etwas einmal gewollt hat, so muß er es immer und von Anbeginn gewollt haben. Schon die Manichäer hatten die Mosaische Kosmogonie heftig angegriffen, und auf der von ihnen gegebenen Grundlage lehrte Origenes, daß Gott von Ewigkeit her seine Schöpferkraft ausgeübt habe. Spinoza, der zuerst eine wissenschaftliche Kritik des Pentateuchs unternahm (Theol. polit. Traktat, Kap. 2 ff.), hat diese Lehre nicht explicite behandelt, (aber allerdings implicite: Ethik, L. 21); erst Bayle sammelte die Widersprüche, die das Copernikanische System aufgedeckt hatte. Eine der besten übersichtlichen Darstellungen des Einflusses der Wissenschaft auf die alttestamentliche Lehre giebt Goodwin in »Essays and Reviews« (Tauchnitz Collection, pg. 187).

Darum darf man auch die Jahre der Welt nicht zählen; die Zahl der Sandkörner am Meere läßt sich so wenig mit ihnen vergleichen wie ein Augenblick.

Indessen erzählen uns alle Geschichtschreiber von einem ersten Menschen, unserem Stammvater; sie enthüllen uns den Ursprung der menschlichen Natur. Aber scheint es nicht eine natürliche Annahme, daß Adam ebenso von einem allgemeinen Untergange gerettet wurde, wie Noah von der Sintflut, und daß sich solche großartigen Ereignisse seit Erschaffung der Welt auf Erden häufig wiederholt haben? »Was die Sintflut anlangt, da bestätigen die ältesten klassischen Schriften der Asiaten sowohl die Flut als die Sünde, das heißt, sowohl das Faktum als die Veranlassung.« (Claudius, Werke, Bd. 2, Seite 115 ff.) Daselbst erfahren wir auch (nach den Asiatic Researches, vol. III), daß die Geschichte von Noah und seinen Söhnen schon in der Padma Pura der Indier zu finden ist.

Aber nicht jede Zerstörung ist eine gewaltsame. Wir sehen, wie mehrere Teile der Erde aus Erschöpfung nachlassen, den Menschen ihren Lebensunterhalt zu liefern; wer weiß, ob nicht die ganze Erde an allgemeinen, langsam wirkenden und unmerklichen Ursachen der Erschöpfung krankt?

Es lag mir daran, Dich zuerst in diese allgemeinen Betrachtungen einzuführen, ehe ich im einzelnen Deinen Brief über die seit siebzehn bis achtzehn Jahrhunderten eingetretene Abnahme der Völker beantworte. Das nächste Mal werde ich Dir nachweisen, wie diese Wirkung, ganz unabhängig von den physischen Ursachen, auch durch moralische veranlaßt wurde.

Paris, am 8. des Mondes Chahban, 1718.



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