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Neunundsiebzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Die meisten Gesetzgeber waren beschränkte Menschen. Der Zufall hatte sie an die Spitze ihrer Völker gestellt, und sie ließen sich fast nur von ihren Vorurteilen und Launen beraten.

Es scheint, als habe ihnen das Verständnis für die Hoheit und Würde ihrer Pflichten gefehlt; sie haben sich damit unterhalten, kindische Einrichtungen zu erfinden, womit sie allerdings nach dem Sinne kleinlicher Geister handelten, aber bei vernünftigen Leuten alle Achtung verloren.

Sie haben ihre Kraft an nutzlose Nebendinge verschwendet und besonderen Fällen ihr größtes Interesse zugewandt, nach Art der dürftig veranlagten Köpfe, welche die Dinge nur stückweise übersehen und nichts mit allgemeinem Blick umfassen.

Einige von ihnen haben sich darin gefallen, eine andere als die gewöhnliche Sprache zu gebrauchen: wahrlich ein abgeschmacktes Verfahren; denn wie soll man den Gesetzen gehorchen, wenn sie unverständlich sind?

Oft haben sie ohne Not die bestehenden aufgehoben und dadurch über die Völker einen Zustand innerer Unruhe gebracht, welcher die Folge jeder Veränderung ist.

Es läßt sich freilich nicht leugnen, daß eine mehr durch natürliche Einflüsse als durch den menschlichen Geist bestimmte Laune der Verhältnisse bisweilen die Veränderung dieses oder jenes Gesetzes notwendig macht. Aber der Fall ist selten, und so oft er eintritt, sollte man nur mit zögernder Hand daran rühren. Mit größter Feierlichkeit hat dies zu geschehen, und die äußerste Vorsicht ist dabei anzuwenden, damit das Volk daraus den natürlichen Schluß ziehen könne, daß die Gesetze heilig sind, da es zu ihrer Abschaffung so vieler Förmlichkeiten bedarf. Schon Montaigne hatte sich prinzipiell gegen jede Veränderung der Gesetze ausgesprochen. (Siehe Essais, I, 22.) Er erwähnt den Gesetzgeber der Thurier, Charondas; dieser verordnete, daß jeder, der ein altes Gesetz abschaffen oder ein neues einbringen wollte, mit einem Strick um den Hals vor dem Volk zu erscheinen habe, um sogleich gehängt zu werden, wenn sein Vorschlag keine allgemeine Billigung fände. Sicherlich zeigt Montesquieu in diesem Abschnitt sehr konservative Tendenzen, durch die er keineswegs als ein Vorläufer der Revolution erscheint. Dagegen hatte bereits Pascal gesagt (Pensées, XI, 6): »Die Staaten würden untergehen, wenn man die Gesetze nicht oft unter die Notwendigkeit beugte.«

Oftmals haben sie dieselben mit übergroßer Spitzfindigkeit ausgebildet und dabei viel mehr logische Ideen als die natürliche Billigkeit zu Rate gezogen. In späteren Zeiten erwiesen sich dann solche Gesetze zu hart, und aus einem gewissen Rechtsgefühl hielt man sich für befugt sie zu vernachlässigen; aber diese Arzenei war ein neues Übel. Wie auch die Gesetze beschaffen sein mögen, man muß ihnen immer gehorchen und sie als das allgemeine Gewissen betrachten, dem sich das der Einzelnen allezeit unterzuordnen hat.

Man muß jedoch einräumen, daß einige Gesetzgeber sich von den weisesten Rücksichten haben leiten lassen, besonders darin, daß sie den Vätern große Gewalt Die römische patria potestas ist durchaus unverträglich mit den Anschauungen unserer Zeit von persönlicher Freiheit. Die Rechte der Kinder, selbst erwachsener, waren in vielen Beziehungen nicht größer als die der Sklaven. Damit Hand in Hand mußte natürlich auch das Recht der Kinderaussetzung gehen, welches selbst von Seneca (Contr., IX 26. X, 33) und Tacitus (Ann. III, 25) gebilligt und erst nach der Erhebung des Christentums durch Konstantin im Jahre 315 gesetzlich verboten wurde. Auf die Gefahren der väterlichen Gewalt weist Rousseau hin in der neunten Anmerkung zum Discours sur l'origine de l'inégalité. über ihre Kinder zugestanden. Durch nichts wird die Aufgabe der Behörden so sehr erleichtert, durch nichts die Arbeit der Gerichte so sehr vermindert, durch nichts endlich größere Ruhe im Staate verbreitet, wo die Sitte stets bessere Bürger hervorbringt, als das Gesetz.

Unter allen Gewalten ist die väterliche am wenigsten in Gefahr, gemißbraucht zu werden; sie ist die heiligste von allen Obrigkeiten; sie ist die einzige, welche nicht erst durch Vertrag in Kraft getreten, sondern älter als alle Verträge ist.

Erfahrungsgemäß sind in den Ländern, wo man das Recht, zu belohnen und zu strafen, mehr den väterlichen Händen überläßt, die Familien besser geordnet. Ein Vater ist das Abbild des Weltenschöpfers, der, obschon er die Menschen allein durch seine Liebe leiten könnte, dennoch es für gut befindet, sie auch noch durch Hoffnung und Furcht an sich zu fesseln.

Ich will meinen Brief nicht schließen, ohne Dir auch an diesem Beispiel darzuthun, wie sich die Franzosen mit ihrem Geiste zum Wunderlichen neigen. Aus dem römischen Recht Über das römische Recht vergl. Brief 101 und Anm. sollen sie eine Unzahl nutzloser, ja selbst schädlicher Gesetze angenommen haben; aber die väterliche Gewalt, welche es als die höchste gesetzliche Autorität aufgestellt hatte, haben sie nicht anerkannt.

Paris, am 18. des Mondes Saphar, 1715.



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