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Achtundachtzigster Brief.
Rica an ***.

Man sagt, der Mensch sei ein geselliges Tier. Von diesem Standpunkte scheint mir der Franzose mehr Mensch zu sein, als irgend ein andrer; er ist Mensch im höchsten Sinne des Worts; denn nach allen Anzeichen ist er einzig für die Gesellschaft gemacht.

Doch habe ich hier auch Leute getroffen, die nicht allein gesellig sind, sondern in sich selbst die ganze Gesellschaft repräsentieren. Sie vervielfältigen sich an jeder Ecke und bevölkern in einem Augenblick alle vier Viertel einer Stadt. Hundert Menschen dieser Art bedeuten eine größere Menge, als zweitausend gewöhnliche Bürger; sie könnten bewirken, daß ein Fremder von den Verheerungen der Hungersnot und der Pest nichts merken sollte. In den Schulen wirft man die Frage auf, ob ein Körper sich gleichzeitig an mehreren Orten befinden könne; sie sind ein Beweis für das, was die Philosophen in Frage stellen.

Sie sind immer beschäftigt; denn sie haben das wichtige Amt, jeden, den sie sehen, zu fragen, wohin er gehe, und woher er komme.

Vergeblich würde man ihnen auszureden versuchen, daß es zum guten Ton gehöre, tagtäglich jedermann einen besonderen Besuch zu machen; und ihre Gegenwart unter den Gästen bei geselligen Vereinigungen rechnen sie gar nicht mit; denn da sie sich dort nur kurze Zeit aufhalten, so zählen dieselben nicht in ihrem Ceremoniell.

Mehr, als Wind und Wetter an den Hausthüren rütteln, bearbeiten sie dieselben mit dem Klopfer. Gäbe man sich die Mühe, die Besucherlisten sämtlicher Thürsteher durchzusehen, so würde man darin ihren Namen täglich auf tausenderlei Art in Schweizer Schriftzügen »In damaliger Zeit ward das Thürsteheramt in Paris fast ausschließlich von Schweizern verwaltet.« Strodtmann. verhunzt finden. In Leichengefolgen, mit Beileidsbezeugungen, mit Heiratsbetreibungen verbringen sie ihr Leben. Keine Gnade kann der König einem seiner Unterthanen erweisen, ohne daß sie es sich einen Wagen kosten ließen, um dem Geehrten ihre Freude auszudrücken. Endlich kommen sie ganz erschöpft nach Hause und legen sich zur Ruhe, um am nächsten Tage ihre mühsamen Pflichten von neuem erfüllen zu können.

Vor kurzem erlag ein solcher Mensch seiner aufreibenden Thätigkeit, und man ehrte sein Andenken durch folgende Grabschrift: »Hier ruht, der sich niemals die Ruhe gegönnt hat. In fünfhundertunddreißig Leichenzügen ist er gefolgt. Bei der Geburt von zweitausendsechshundertundachtzig Kindern hat er seine Freude kundgegeben. Die Pensionen, zu denen er seinen Freunden in immer neuen Formen Glück wünschte, belaufen sich auf zwei Millionen sechshunderttausend Livres. Er hat auf dein Straßenpflaster einen Weg von neuntausendsechshundert, und auf dem Lande einen Weg von sechsunddreißig Stadien zurückgelegt. Im Gespräch war er unterhaltend; denn er verfügte über einen fertigen Vorrat von dreihundertfünfundsechzig Anekdoten; dazu beherrschte er seit seiner Jugend noch eine Sammlung von hundertundachtzehn aus den Alten entlehnten Kernsprüchen, mit denen er bei passenden Gelegenheiten zu glänzen wußte. Endlich ist er in seinem sechzigsten Lebensjahre gestorben. Wanderer, ich schweige; denn wie könnte ich jemals damit fertig werden, Dir alles zu erzählen, was er gethan, und was er gesehen hat?«

Paris, am 3. des zweiten Mondes Gemmadi, 1715.



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