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Vierundzwanzigster Brief.
Rica an Ibben in Smyrna.

Seit einem Monat befinden wir uns in Paris, und die ganze Zeit sind wir in beständiger Bewegung gewesen. Es kostet viele Mühe, bis man sich wohnlich eingerichtet und die Leute gefunden, an die man empfohlen ist, und bis man sich die vielerlei Dinge verschafft hat, die einem hier notwendig sind und samt und sonders fehlen.

Paris ist so groß wie Ispahan Ispahan soll, bis es 1722 von den Afghanen zerstört wurde, beinahe eine Million Einwohner gehabt haben.. Die Häuser sind so hoch, daß man fast glauben möchte, sie seien von lauter Sterndeutern bewohnt. Du kannst Dir wohl vorstellen, daß eine Stadt, die hoch in die Luft hinaufgebaut ist, und wo immer sechs bis sieben Häuser übereinander stehen, äußerst dicht bevölkert sein muß. So entsteht denn auch jedesmal ein ergötzlicher Wirrwarr, wenn alles in die Straße hinabgestiegen ist.

Es wird Dir kaum glaublich erscheinen, daß ich in dem Monat seit meiner Ankunft noch fast niemand habe zu Fuß gehen sehen. Kein Volk der Welt hat besseres Fuhrwerk, als die Franzosen; das eilt, das fliegt nur so! Mit den langsamen asiatischen Gefährten, bei dem gemessenen Schritt unserer Kameele würden sie in Ohnmacht fallen. Ich, der ich für solche Hast nicht zugeschnitten bin und oft zu Fuß gehe, ohne meinen Gang zu ändern, werde zuweilen wütend wie ein Christ. Es mag noch hingehen, daß man mich vom Kopf bis auf die Füße mit Kot bespritzt; aber die Rippenstöße, die man mir in regelmäßigem Takte versetzt, sind unverzeihlich. Jemand, der hinter mir geht und an mir vorüber will, zwingt mich, eine halbe Wendung zu machen; und ein Zweiter, der mir von der andren Seite entgegen kommt, schiebt mich plötzlich dahin zurück, wo der Erste mich fortgedrängt hatte; und bevor ich noch hundert Schritt gegangen, fühle ich mich ärger zerstoßen, als wenn ich zehn Meilen zurückgelegt hätte.

Erwarte nicht, daß ich Dir jetzt schon gründlich über die europäischen Sitten und Gebräuche Auskunft geben könnte. Ich habe selbst erst eine schwache Ahnung davon, und kaum habe ich bisher nur zum Staunen Zeit gehabt.

Der König von Frankreich ist der mächtigste Fürst in Europa. Er hat keine Goldminen wie sein Nachbar, der König von Spanien; aber er besitzt größere Reichtümer als dieser, weil er sie von der Eitelkeit seiner Unterthanen empfängt, welche unerschöpflicher ist als die Bergwerke. Man hat erlebt, wie er große Kriege ohne andere Mittel als käufliche Ehrentitel unternahm und fortführte; durch das Wunder menschlichen Stolzes sahen sich seine Truppen besoldet, seine Festungen ausgerüstet und seine Flotten bemannt.

Übrigens ist dieser König ein großer Zauberer; seine Herrschaft erstreckt sich selbst auf den Geist seiner Unterthanen; er macht sie denken wie er will. Hat er nur eine Million Thaler in seinem Schatze und bedarf ihrer zwei, so braucht er ihnen nur einzureden, daß ein Thaler zwei gilt, und sie glauben es. Hat er einen kostspieligen Krieg, zu führen, und es fehlt ihm an Gelde, so braucht er ihnen nur in den Kopf zu setzen, ein Stück Papier sei Geld Es gab auch in Persien Papiergeld, und zwar schon um 1295, wo es nach dem Vorgange der Chinesen von Kap-Khatun, einem Fürsten aus der Mogul-Dynastie, eingeführt wurde., und augenblicklich sind sie davon überzeugt. Ja, er geht so weit, sie glauben zu machen, er könne sie durch seine Berührung von allerlei Krankheiten heilen Es war bei den französischen Königen alter Brauch, nach der Messe die Kranken mit dem Zeichen des Kreuzes zu segnen, wobei sie die Worte sprachen: »Der König berührt dich, Gott heile dich.«, so groß ist seine Macht über die Geister der Menschen.

Aber was ich Dir von diesem Fürsten berichte, darf Dich nicht wundern; giebt es doch noch einen anderen Zauberer, welcher mächtiger ist als der König und nicht minder den Geist des letzteren beherrscht, als dieser die Geister aller Übrigen. Dieser Zauberer heißt der Papst. Bald macht er ihn glauben, drei sei nur eins So sagte Goethe: »Ich sollte auch glauben, daß drei eins sei und eins drei: das aber widerstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner Seele; auch sah ich nicht ein, das mir damit auch nur im mindesten wäre geholfen gewesen.« (Gespräche mit Eckermann, III, 30); bald wieder, das Brot, welches man ißt, sei kein Brot, und der Wein, den man trinkt, sei kein Wein; und tausend ähnliche Seltsamkeiten »Ein Türke muß türkisch sehen, sprechen und denken: das wird von manchem Leser der ›Persischen Briefe‹ vergessen.« (Montesquieu in einem Briefe vom 4. Oktober 1752, an den Abbé de Guasco)..

Um ihn aber stets in Atem zu erhalten und zu verhüten, daß er die Gewohnheit des Glaubens verliere, giebt er ihm von Zeit zu Zeit zur Übung gewisse Glaubensartikel. So schickte er ihm vor zwei Jahren ein großes Schriftstück, welches er »Constitution« Die »Constitution« oder Bulle Unigenitus wurde von Papst Clemens XI. im Jahre 1713 erlassen. Sie bekämpft nicht nur 111 Sätze der jansenistischen ›Réflexions morales‹ des Pater Quesnel über das neue Testament, sondern zum Teil auch das letztere selbst. Über 2000 theologische Streitschriften zwischen den Jansenisten und den Molinisten (oder Jesuiten) wurden durch sie hervorgerufen. nannte, und wollte den Fürsten und seine Unterthanen unter Androhung schwerer Strafen zwingen, alles zu glauben, was darin geschrieben stand. Er erreichte auch seinen Zweck bei dem Fürsten, der sich alsbald unterwarf und damit seinen Unterthanen ein Beispiel gab. Unter den letzteren aber zeigten sich einige widerspenstig, indem sie erklärten, von allem, was die »Constitution« behaupte, wollten sie garnichts glauben. Und zwar waren es die Frauen, welche als Triebfedern dieses Widerstandes wirkten, der bei Hofe, im ganzen Königreich und in allen Familien Zwietracht gestiftet hat. Diese Constitution verbietet ihnen, ein Buch zu lesen, von welchem alle Christen sagen, daß es ihnen vom Himmel selbst gegeben sei; es ist eigentlich ihr Alkoran. Außer sich über die ihrem Geschlechte widerfahrene Beleidigung, setzen die Frauen alles gegen die Constitution in Bewegung; auch die Männer, welche in dieser Angelegenheit keine Vorrechte haben wollen, haben sie für sich gewonnen.

Man muß jedoch zugeben, daß dieser Mufti Der türkische Oberpriester, eigentlich Rechtsprecher. gar nicht so übel kalkuliert; und beim großen Ali! er muß die Grundwahrheiten unsres heiligen Gesetzes studiert haben. Denn da die Weiber auf einer niedrigeren Stufe stehen, als wir, und da wir von unsren Propheten wissen, daß sie nicht in das Paradies kommen werden: warum sollten sie sich mit dem Lesen eines Buches befassen, das nur dazu geschrieben ist, den Weg zum Paradiese zu weisen?

Ich habe Dinge über den König erzählen hören, die an das Fabelhafte streifen, und ich zweifle nicht, daß Du Bedenken tragen wirst, sie zu glauben.

So sagt man, daß während eines Krieges mit seinen Nachbarn, die sich alle gegen ihn verbündet hatten, eine unzählige Menge von unsichtbaren Feinden in seinem Reiche ihn überall umgeben habe. Man fügt hinzu, daß er sie mehr als dreißig Jahre gesucht und ungeachtet der unermüdlichen Sorgen gewisser Derwische, die seine Vertrauten sind, ihrer keinen einzigen habe finden können. Sie leben mit ihm; sie sind an seinem Hofe, in seiner Hauptstadt, in seinem Heere, in seinen Gerichtshöfen; und dennoch wird er wohl den Kummer haben, sterben zu müssen, ohne daß es ihm gelungen wäre, sie zu entdecken. Man möchte sie für einen allgemeinen Begriff halten, dem die konkrete Existenz fehlt, für einen Körper ohne Glieder. Augenscheinlich will der Himmel diesen Fürsten dafür strafen, daß er gegen seine besiegten Feinde nicht genug Mäßigung bewiesen hat; darum umgiebt er ihn mit unsichtbaren Es ist von den jansenistischen Anhängern von Port Royal die Rede, die Ludwig XIV. auf Anstiften der Jesuiten durch Ketzerverfolgungen zu unterdrücken suchte, ohne dadurch die Vermehrung ihrer Sekte hindern zu können. deren Geist und Bestimmung größer sind, als seine eigenen.

Ich werde fortfahren, Dir zu schreiben, und Du wirst vieles erfahren, was dem persischen Geist und Charakter außerordentlich fremd ist. Es ist freilich dieselbe Erde, die uns beide trägt; aber die Einwohner des Landes, in welchem ich verweile und diejenigen des Landes, wo Du lebst, sind ganz verschiedene Menschen.

Paris, am 4. des zweiten Mondes Rebiab, 1712.



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