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Einige Betrachtungen
über die Persischen Briefe.

1754.

In den »Persischen Briefen« findet man, ohne es zu erwarten, eine Art von Roman, und nichts hat ihnen größeren Beifall eingetragen, als dieser Umstand. Man sieht den Anfang, die Entwicklung, das Ende desselben; die einzelnen Personen verhalten sich zu einander wie Glieder einer zusammenhängenden Kette Je mehr ihr Aufenthalt in Europa sich in die Länge zieht, desto mehr verliert sich die Wunderlichkeit und Seltsamkeit, mit der die Sitten dieses Weltteils sich in ihrem Kopfe spiegeln; und je nach der Verschiedenheit ihrer Charaktere wirkt diese Seltsamkeit und Wunderlichkeit mehr oder weniger befremdend auf sie. Auf der andren Seite wächst die Verwirrung in dem asiatischen Serail, je länger sich Usbeks Rückkehr verzögert, das heißt in dem Maße, wie die sinnlichen Begierden sich steigern und die Liebe sich vermindert.

Überhaupt haben Romane dieser Art gewöhnlich Erfolg, weil man dadurch angeregt wird, über seine thatsächliche Lage mit sich abzurechnen; denn das macht die Leidenschaften fühlbarer, als alle Geschichten, die man davon erzählen könnte. Dies ist auch eine der Ursachen des Erfolges einiger anziehender Schriften, die seit den »Persischen Briefen« erschienen sind. Unter den zu Lebzeiten Montesquieu's in Frankreich erschienenen Nachahmungen verdienen Erwähnung die »Lettres turques« von Saint-Fox (1744-54); »Lettres juives« (1754); »Lettres chinoises« von Marquis d'Argens; »Lettres d'Amabed« von Voltaire.

In gewöhnlichen Romanen endlich können Abschweifungen nur dann gestattet werden, wenn sie in sich selbst einen neuen Roman bilden. Man könnte denselben keine Betrachtungen einflechten; denn da keine der dargestellten Personen darin vorgeführt werden, um Betrachtungen anzustellen, so würde das dem Zweck und der Natur des Werkes zuwiderlaufen. In der Form von Briefen dagegen, wo die handelnden Personen nicht absichtlich gewählt sind, und wo die behandelten Gegenstände von keinem Endzwecke oder bereits gefaßten Plane abhängen, befindet sich der Autor in der günstigen Lage, Philosophie, Politik und Moral mit einem Roman verbinden zu können und das Ganze durch eine geheime und gewissermaßen unbekannte Kette zu verknüpfen.

Die »Persischen Briefe« hatten anfänglich einen so erstaunlichen Absatz, Vergl. die Einleitung des Übersetzers. daß die Buchhändler alles ins Werk setzten, um Fortsetzungen davon zu erlangen. Sie zupften sogleich jeden, dem sie begegneten, am Ärmel und sagten: »Mein Herr, schreiben Sie mir doch Persische Briefe.«

Doch das Gesagte ist genügend, um es augenscheinlich zu machen, daß sie keine Fortsetzung zulassen, und noch weniger eine Verwischung mit Briefen, die von andrer Hand geschrieben sind, so geistreich dieselben auch sein möchten.

Das Buch enthält einige Züge, die vielen Leuten ziemlich gewagt erschienen sind; aber wir bitten sie, den Charakter dieses Werkes zu berücksichtigen. Die Perser, welche darin eine so große Rolle spielen, fanden sich plötzlich nach Europa, d. h. in eine andere Welt versetzt. Es war notwendig, sie zuerst in einem Stadium darzustellen, wo Unwissenheit und Vorurteile sie noch erfüllten; der Autor hatte nur den Zweck im Auge, die Entstehung und den Fortschritt ihrer Ideen zu schildern. Ihre ersten Gedanken mußten seltsam sein; es schien weiter nichts erforderlich, als ihnen jene Art von Absonderlichkeit zu verleihen, die mit Geist zusammen bestehen kann; man hatte nur ihre Empfindung bei dem Anblick eines jeden Dinges, das ihnen außerordentlich erschien, zu malen. Weit entfernt von dem Gedanken, irgend einen Grundsatz unsrer Religion zu verletzen, hatte der Verfasser nicht einmal das Bewußtsein der Unbesonnenheit. Solche Äußerungen finden sich immer mit dem Gefahr der Überraschung und des Erstaunens verbunden, und nicht mit der Idee der Prüfung, und noch weniger mit derjenigen der Kritik. Wenn diese Perser von unsrer Religion sprechen, so dürfen sie nicht besser unterrichtet erscheinen, als wenn sie von unsren Sitten und Gebräuchen reden; und wenn sie unsre Dogmen manchmal absonderlich finden, so trägt diese Absonderlichkeit immer den Stempel der vollkommenen Unwissenheit über den Zusammenhang, der zwischen jenen Glaubenssätzen und unseren übrigen Wahrheiten besteht.

Wir geben diese Rechtfertigung aus Liebe zu jenen großen Wahrheiten, ganz abgesehen von der Achtung für das menschliche Geschlecht, das wir wahrlich nicht an seiner empfindlichsten Stelle haben treffen wollen. Wir bitten daher den Leser, nicht für einen Augenblick aufzuhören, die erwähnten Äußerungen als Wirkungen des Erstaunens in Leuten, die solches notwendig empfinden mußten, zu betrachten, oder auch als Paradoxa, von Menschen aufgestellt, welche nicht einmal imstande waren, dergleichen aufzustellen. Wir bitten ihn, zu bedenken, daß das Interesse des Ganzen aus dem ewigen Gegensatze zwischen den wirklichen Dingen und der sonderbaren, naiven oder komischen Art, mit der sie betrachtet wurden, beruhte. Ganz gewiß spricht das Wesen und die Tendenz der »Persischen Briefe« sich so unverhohlen aus, daß sie nur diejenigen täuschen werden, die sich selbst täuschen wollen. Diese Vorrede erschien erst dreiunddreißig Jahre später als die erste Auflage des Buches. Sie enthält eine Apologie, durch welche die gewagteren Ansichten in demselben scheinbar zurückgenommen werden, und man darf annehmen, das sie dem altgewordenen Verfasser aus dem Herzen kam. Unzweifelhaft aber ist es wohl, daß der junge Montesquieu durch den Mund seiner Perser so redete, wie er selbst dachte.



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