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Sechzigster Brief.
Usbek an Ibben in Smyrna.

Ob es in Frankreich Juden giebt, fragst Du mich? Ganz gewiß! Überall, wo Geld ist, sind auch Juden. Was Genau dasselbe wie in Persien; nichts ist einem Juden in Asien ähnlicher, als ein Jude in Europa.

Unter den Christen hängen sie an ihrer Religion mit derselben unbezwinglichen Hartnäckigkeit, die an Wahnsinn grenzt, wie bei uns. Die jüdische Religion ist ein alter Stamm, und die beiden Zweige, die er getrieben, der Muhamedanismus und das Christentum, erstrecken sich über die ganze Erde. Oder sie ist vielmehr eine Mutter, welche zwei Töchter geboren, die ihr tausend Wunden geschlagen haben; Collin de Plancy bemerkt zu dieser Stelle: »Voltaire hat den nämlichen Gedanken in dem Artikel ›Juden‹ des Dictionaire philosophique folgendermaßen wiedergegeben: ›Die christliche und die muselmännische Religion betrachten die jüdische als ihre Mutter, und in seltsamem Widerspruch achten und verabscheuen sie diese Mutter zu gleicher Zeit.« Im dritten Abschnitt desselben Artikels schreibt er einen Satz Montesquieu's wörtlich ab, ohne diesen zu nennen. Wir bemerken dies nur, um zu zeigen, wie unrecht Voltaire gethan, diese ›Persischen Briefe‹ zu geißeln, aus denen er so vieles entlehnt hat, was man in seinen Schriften bewundert.« denn die nächstverwandten Religionen sind die bittersten Feindinnen. Aber wie übel sie auch von ihnen behandelt worden, wird sie doch nicht müde, sich zu rühmen, daß sie sie zur Welt gebracht hat. Sie bedient sich der einen wie der anderen, um die ganze Welt zu umfassen, während andererseits ihr ehrwürdiges Alter alle Zeiten umfaßt.

Die Juden betrachten sich demnach als die Quelle aller Heiligkeit und den Ursprung aller Religion; wir dagegen gelten ihnen als Ketzer, die das Gesetz entstellt haben, oder vielmehr als rebellische Juden.

Hätte der Abfall sich unmerklich vollzogen, so würden auch sie leicht verführt worden sein, glauben sie; aber da er plötzlich und gewaltsam war, und sie Tag und Stunde beider Geburten bezeichnen können, so ärgern sie sich darüber, daß auch wir alt geworden, und klammern sich an eine Religion, welche so alt ist wie die Welt.

Nie zuvor haben sie in Europa einer Ruhe genossen wie heutzutage. Die Christen fangen an, sich von jenem Geiste der Unduldsamkeit, der sie beseelte, frei zu machen. Für Spanien hatte es so üble Folgen, daß man die Juden aus dem Lande jagte, 1492. wie für Frankreich, daß man Christen hetzte, deren Glaube sich von dem des Fürsten ein wenig unterschied. Man hat erkannt, daß der Eifer für die Ausbreitung der Religion und die Treue, mit der man ihr anhängen soll, zweierlei ist, und daß man, um sie zu lieben und auszuüben, diejenigen nicht zu hassen und zu verfolgen braucht, die sie nicht ausüben.

Es wäre zu wünschen, daß unsere Muselmänner über diesen Punkt ebenso vernünftig dächten wie die Christen, damit man endlich einmal zwischen Ali und Abubekr Frieden stiften und Gott die Sorge überlassen könnte, die Verdienste dieser heiligen Propheten zu entscheiden. Ich wollte, daß man sie durch Handlungen der Ehrfurcht und Hochachtung, anstatt durch eitles Parteinehmen, ehrte, und daß man ihre Huld zu verdienen suchte, gleichviel welchen Rang Gott ihnen zugewiesen habe, sei es nun zu seiner Rechten oder unter dem Fußschemel seines Thrones.

Paris, am 18. des Mondes Saphar, 1714.



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