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Hundertundzweiter Brief.
Usbek an ***.

Alle Welt spricht hier von der Konstitution. Siehe über die Konstitution oder Bulle Unigenitus den 24. Brief. Wie Collin de Plancy bemerkt, beschäftigte sie dermaßen alle Köpfe, daß ein Abbé sie unter dem Titel »Don Rinucio d'Alètès« in einen Roman brachte, der unter dem neuen Titel »Raphael d'Aguilar« neuerdings von de Rougemont wieder ans Licht gezogen wurde. Strodtmann giebt zu diesem Briefe noch folgende Erklärung: »Da die jansenistische Partei unter der Regentschaft immer zahlreichere Anhänger fand, befahl der Papst den Bischöfen, die Bulle durch Ausschreiben in ihren Sprengeln bekannt zu machen. Es kam dabei häufig vor, daß die Bischöfe sich fremder Federn bedienten. ›Haben Sie mein Ausschreiben gelesen?‹ fragte ein Bischof den Dichter Piron. ›Jawohl, Monseigneur,‹ erwiderte der lose Spötter; ›Sie auch?‹ – Übrigens wurde die Bulle von der Sorbonne nicht angenommen. Der erste, der mir neulich bei meinem Eintritt in ein Haus in die Augen fiel, war ein dicker Mann mit hochrotem Gesicht, der mit lauter Stimme ausrief: »Ich habe mein Sendschreiben erlassen; ich erwidre Ihnen nichts auf alle Ihre Einwürfe; aber lesen Sie dies Sendschreiben, und Sie werden sehen, daß ich darin alle Ihre Zweifel gelöst habe. Ich habe manchen Schweißtropfen darüber vergossen,« sagte er, indem er sich mit der Hand über die Stirn fuhr; »ich mußte meine ganze Gelehrsamkeit dazu aufbieten und eine Menge lateinischer Autoren darüber nachlesen.« – »Ich glaub's Ihnen gern,« antwortete jemand, der in der Nähe stand; »denn es ist ein treffliches Werk, und ich wollte darauf wetten, daß der Jesuit, der Sie so oft besucht, es nicht besser machen kann.« – »Also lesen Sie es ja,« wiederholte der erste; »in einer Viertelstunde werden Sie daraus ein klareres Urteil über diese Frage gewinnen, als wenn ich Sie zwei Stunden lang davon unterhielte.« Auf solche Weise vermied er es, sich näher auf den Gegenstand einzulassen, um sich keine Blöße zu geben. Aber da man ihn des weiteren mit Fragen bestürmte, mußte er wohl oder übel aus seiner Deckung hervortreten, und nun begann er, nach theologischer Manier das dümmste Zeug auszukramen, wozu ihm ein Derwisch mit großer Ehrerbietung seinen Beistand lieh. Als zwei von den anwesenden Gästen einer seiner Behauptungen widersprachen, schnitt er ihnen sogleich das Wort mit der Erwiderung ab: »Das steht fest; denn wir haben es so entschieden, und wir sind unfehlbare Richter.« – »Aber wie können Sie unfehlbare Richter sein?« fragte ich darauf. – »Wissen Sie nicht,« antwortete er, »daß der heilige Geist uns erleuchtet?« – »Das ist ein wahres Glück,« gab ich ihm zur Entgegnung; »denn aus allem, was Sie den Abend über gesagt haben, muß ich den Schluß ziehen, daß Sie der Erleuchtung gar sehr bedürfen.«

Paris, am 18. des ersten Mondes Rebiab, 1717.



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