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Elfter Brief.
Usbek an Mirza zu Ispahan.

Du verzichtest auf den Gebrauch Deines Verstandes, um den meinigen auf die Probe zu stellen; Du lässest Dich so weit herab, mich um Rat zu fragen; Du hältst mich für fähig, Dich zu belehren. Mein lieber Mirza, eins schmeichelt mir noch mehr als Deine hohe Meinung von mir: nämlich Deine Freundschaft, der sie entspringt.

Um Deinen Wunsch zu erfüllen, hielt ich es nicht für angezeigt, mich auf eine sehr abstrakte Darlegung einzulassen. Gewisse Wahrheiten werden nicht durch bloße Überredung annehmbar, sondern man muß sie auch fühlbar machen: Wagner: Wie soll man sie durch Überredung leiten?
Faust: Wenn Ihr's nicht fühlt, Ihr werdet's nicht erjagen,
      Wenn es nicht aus der Seele dringt
      Und mit urkräftigem Behagen
      Die Herzen aller Hörer zwingt.

Goethe (Faust)
und von dieser Art sind die moralischen. Vielleicht wird das folgende Stückchen Geschichte Dich tiefer bewegen als philosophische Argumente.

In Arabien gab es einmal ein kleines Volk, Troglodyten Plutarch (Leben des Marcus Antonius) spricht von mehreren afrikanischen Völkern dieses Namens. Pomponius Mela sucht sie in Äthiopien. genannt, welches von jenen urzeitlichen Troglodyten abstammte, die, wenn wir den Geschichtschreibern glauben dürfen, den Tieren ähnlicher waren als den Menschen. Die aber, von denen ich erzähle, waren nicht so mißgestaltet; sie waren weder zottig wie die Bären, noch zischten sie, und sie hatten Augen. Aber sie waren so bösartig und wild, daß es Grundsätze der Billigkeit und Gerechtigkeit bei ihnen nicht gab Villemain (Éloge de Montesquieu) sagt, das die drei Entwickelungsstufen, die von dem Troglodytenstaat des Verfassers durchlaufen werden, ein Bild der ganzen Weltgeschichte darstellen und die sanfte Rechtfertigung des gesitteten Lebens der Gesellschaft enthalten. Andrerseits protestiert Schvarcz (vgl. Einleitung des Übersetzers) auf das Nachdrücklichste dagegen, daß man diese Troglodyten-Episode für eine staatswissenschaftlich zurechnungsfähige Diatribe ansehe; er nennt sie ein soziales Idyll, kaum etwas mehr als ein sittlich-schönes Kindermärchen..

Sie hatten einen König von ausländischer Abstammung, der, in der Absicht, ihre Bösartigkeit zu mildern, ihnen mit Strenge begegnete; aber sie verschworen sich gegen ihn, ermordeten ihn und vertilgten das ganze königliche Haus.

Sobald dieser Streich vollführt war, versammelten sie sich zur Wahl einer Regierung, und nach langer Uneinigkeit setzten sie Obrigkeiten ein. Kaum aber hatten sie dieselben gewählt, als sie ihnen schon wieder unerträglich wurden; und so metzelten sie auch diese nieder.

Von dem neuen Joche befreit, folgte dieses Volk nur noch seiner wilden Natur. Sie kamen alle darin überein, daß sie niemandem mehr gehorchen wollten; jeder solle einzig seine eigenen Interessen im Auge behalten, ohne sich um die der andren zu bekümmern.

Durch diesen einmütigen Beschluß fühlte sich jeder Einzelne höchlichst geschmeichelt. »Warum soll ich«, sagten sie, »mich noch länger für Leute, die mich nichts angehen, halb zu Tode arbeiten? Ich werde nur noch an mich selbst denken. Leb' ich glücklich, was frage ich dann danach, ob es auch die andren sind? Ich werde für die Befriedigung aller meiner Bedürfnisse sorgen, und wenn mir das gelingt, so ist es mir höchst gleichgültig, ob alle andern Troglodyten im Elend sitzen.«

Es war gerade in dem Monat, da man die Saat bestellt. Jeder sagte also: »Nun werd' ich nur noch soviel von meinem Acker bebauen, um das zu meiner Nahrung nötige Korn zu ernten; was darüber ist, würde mir ganz unnütz sein, und für nichts will ich mich nicht plagen.«

Allein die Bodenbeschaffenheit dieses kleinen Reiches war nicht überall die nämliche; einige Gegenden waren wasserarm und gebirgig, andere, tief gelegene wurden von mehreren Strömen durchflossen In diesem Jahre herrschte eine sehr große Trockenheit, und die hochgelegenen Distrikte hatten infolge davon durch eine absolute Mißernte zu leiden, während die, welche bewässert werden konnten, ausnehmend fruchtbar waren. So kam es, daß die Bewohner der Gebirge, bei der Hartherzigkeit der anderen, die sich weigerten, ihre Ernte mit ihnen zu teilen, fast sämtlich, Hungers starben.

Das nächste Jahr war sehr regnerisch. Die Gebirgslandschaften erfreuten sich einer außerordentlichen Fruchtbarkeit, und die Thäler standen unter Wasser. So wurde zum zweitenmale die Hälfte der Bevölkerung von Hungersnot heimgesucht; und diese Elenden fanden die übrigen ebenso hartherzig, wie sie es vorher selbst gewesen waren.

Einer der vornehmsten Bürger hatte eine sehr schöne Frau. Sein Nachbar verliebte sich in dieselbe und entführte sie. Ein großer Streit war die Folge, bis man nach vielen beiderseitigen Beschimpfungen und Thätlichkeiten übereinkam, sich dem Schiedsgericht eines Troglodyten zu unterwerfen, der zur Zeit der Republik ein gewisses Ansehen genossen hatte. Sie begaben sich zu ihm und wollten ihm ihre Ansprüche vortragen. »Ei,« versetzte dieser Mann, »was geht es mich an, ob die Frau dir gehört oder dir? Ich muß jetzt meinen Acker pflügen; soll ich etwa meine Zeit damit verschwenden, euren Streit beizulegen und eure Geschäfte zu verrichten, während ich die meinigen vernachlässige? Ich bitt' euch, laßt mich in Ruhe und belästigt mich nicht weiter mit eurem Gezänk.« Dann verließ er sie und ging an seine Feldarbeit. Nun schwor der Räuber, welcher der Stärkere war, er werde lieber sterben als jenes Weib zurückgeben; und der andre, ganz zerschmettert von der Ungerechtigkeit seines Nachbarn und der Hartherzigkeit des Richters, machte sich in Verzweiflung auf den Heimweg, als er einer jungen, schönen Frau begegnete, die von einer Quelle kam. Er hatte keine Frau mehr, und diese gefiel ihm: und sie gefiel ihm um so mehr, als er erfuhr, daß ihr Mann der nämliche war, der sich, als er ihn zum Schiedsrichter machen wollte, gegen sein Unglück so gefühlslos bewiesen hatte. Er entführte sie daher und schleppte sie in sein Haus.

Ein Mann war im Besitze eines sehr fruchtbaren Feldes, welches er mit vieler Sorgfalt bebaute. Zwei seiner Nachbarn thaten sich zusammen, vertrieben ihn aus seinem Hause und bemächtigten sich seines Feldes. Sie schlossen ein Bündnis miteinander, um sich gegen alle zur Wehr zu setzen, die es gelüsten sollte, es ihnen wegzunehmen; und wirklich konnten sie sich auf diese Art mehrere Monate lang in ihrer Stellung behaupten. Zuletzt aber verdroß es einen von beiden, zu teilen, was er allein haben konnte, daher er den Andren tötete und einziger Herr des Feldes wurde. Doch auch seine Herrschaft hatte keine Dauer: Zwei andre Troglodyten überfielen ihn, und da er zu schwach war, sich zu verteidigen, so wurde er erschlagen.

Ein fast nackter Troglodyt sah Wolle, die zu verkaufen war, und fragte nach dem Preise derselben. »Eigentlich,« dachte der Kaufmann bei sich, »dürfte ich für meine Wolle nur gerade soviel Geld erwarten, als zum Einkauf von zwei Maß Getreide gehört. Aber nun will ich sie um das Vierfache verkaufen, damit ich acht Maß erhalte.« Der Andre mußte sich's gefallen lassen und den geforderten Preis bezahlen. »Nun bin ich aber froh«, sagte darauf der Kaufmann; »jetzt bin ich doch imstande, mir Korn zu beschaffen.« »Was Ihr da sagt!« versetzte der Fremde »Korn gebraucht Ihr? Ich habe ja gerade welches zu verkaufen; nur wird Euch der Preis vielleicht ein wenig überraschen; denn Ihr wißt ja, daß das Getreide jetzt überaus teuer ist, da fast überall Hungersnot herrscht. Indessen, wenn Ihr mir mein Geld zurückgebt, sollt Ihr dafür ein Maß Getreide haben. Nur unter dieser Bedingung will ich es ablassen, und müßtet Ihr darüber verhungern.«

Unterdessen stiftete eine grausame Epidemie im Lande; ihre Verheerungen. Ein geschickter Arzt eilte aus dem Nachbarstaat herbei und behandelte seine Kranken mit so gutem Erfolge, daß alle, die sich seinen Händen anvertrauten, geheilt wurden. Als die Gewalt der Krankheit gebrochen war, ging er zu allen durch seine Behandlung Genesenen, um sein Honorar zu empfangen; aber es wurde ihm überall verweigert. Er kehrte in seine Heimat zurück, wo er ganz erschöpft von den Anstrengungen einer so weiten Reise eintraf. Bald darauf aber erfuhr er, daß die nämliche Krankheit von neuem ausgebrochen sei und mehr denn jemals das undankbare Land verwüste. Diesmal kamen die Leute zu ihm und warteten nicht erst auf seine Wiederkunft. »Hinweg mit euch, unredliches Volk,« antwortete er ihnen. »Ihr tragt in der Seele ein tödlicheres Gift, als das, wovon ihr geheilt werden wollt. Ihr verdient keinen Platz auf der Erde, weit ihr keine Menschlichkeit besitzt, und die Regeln der Billigkeit euch unbekannt sind: Ich würde fürchten, die Götter, die euch strafen, zu beleidigen, wenn ich mich ihrer zürnenden Gerechtigkeit widersetzte.«

Erzerum, am 3. des zweiten Mondes Gemmadi, 1711.



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