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Hundertundfünfundzwanzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Was mag wohl der Beweggrund jener maßlosen Freigebigkeit sein, welche die Fürsten mit verschwenderischen Händen gegen ihre Höflinge üben? Geschieht es, um dieselben an sich zu fesseln? Aber sie sind ihnen schon so gänzlich hingegeben, wie es überhaupt möglich ist. Und übrigens müßten sie, wenn sie sich die Treue einiger ihrer Unterthanen erkauften, aus demselben Grunde eine Unmenge von anderen verlieren, da sie zu deren Verarmung beitragen.

Stelle ich mir vor, wie die Fürsten immer von habgierigen und unersättlichen Menschen umgeben sind, so kann ich sie nur beklagen; und noch mehr beklage ich sie, wenn sie nicht die Kraft haben, gegen Bitten taub zu bleiben, welche denen immer beschwerlich sein müssen, die selbst nicht bitten.

Niemals erfahre ich von ihrer Freigebigkeit, von ihren Gunsterweisungen und den Gnadengehältern, die sie gewähren, ohne in tausenderlei Betrachtungen zu versinken; eine bunte Reihe von Vorstellungen zieht an meinem Geiste vorüber; es ist mir, als hörte ich die folgende Verordnung öffentlich ausrufen:

»Nachdem die unveränderliche Standhaftigkeit etlicher Unserer Unterthanen Unsere königliche Herrlichkeit unablässig um Pensionen angegangen, haben Wir endlich der Menge der Uns eingereichten Bittschriften, die Unserem Throne bisher die größten Sorgen verursacht, nachzugehen geruht. Besagte Bittsteller haben uns vorgestellt, daß sie, seit die Krone Unser königliches Haupt bedeckt, niemals ermangelt haben, bei Unseren Levers zugegen zu sein; daß Wir sie auf Unserem Wege stets unbeweglich wie Grenzsteine gesehen; und daß sie sich aufs Äußerste ausgereckt, um über die höchsten Schultern hinweg den Anblick Unserer Heiterkeit zu genießen. Wir haben sogar mehrere Bittgesuche von Personen des schönen Geschlechts empfangen, die Uns inständigst bitten, die offenkundige Schwierigkeit zu berücksichtigen, die es ihnen koste, sich ihren Unterhalt zu verschaffen. Selbst einige altersschwache Greisinnen haben Uns, mit dem Kopfe wackelnd, gebeten, Uns in Gnaden erinnern zu wollen, daß sie unter Unseren königlichen Vorfahren die Zierden des Hofes gewesen; wenn die Feldherrn ihrer Heere durch ihre Kriegsthaten den Staat zur gefürchteten Macht erhoben, so hätten sie ihrerseits den Hof durch ihre Intriguen nicht weniger berühmt gemacht. Demgemäß, da es Unser Wunsch und Wille ist, die Bittsteller mit Güte zu behandeln und ihnen alle ihre Bitten zu gewähren, haben wir verordnet, was folgt:

Es soll ein jeglicher Arbeiter, welcher fünf Kinder hat, täglich das Brot, das er ihnen bisher zu geben gewohnt, war, um den fünften Teil vermindern. Wir weisen die Hausväter nachdrücklich an, die Schmälerung der Bissen auf jedes einzelne so gerecht wie möglich zu verteilen.

Allen, welche ihre Erbgüter bewirtschaften oder dieselben verpachtet haben, verbieten wir ausdrücklich, irgend eine Reparatur daran vorzunehmen, von welcher Art auch immer.

Wir bestimmen, daß alle Personen, welche mit niedrigen und mechanischen Arbeiten beschäftigt sind, da gedachte Personen niemals bei dem Lever Unserer Majestät zugegen gewesen, hinfort für sich selbst, für ihre Frauen und für ihre Kinder nur noch alle vier Jahre neue Kleider kaufen sollen. Wir untersagen ihnen ferner auf das strengste jene kleinen Vergnügungen, durch welche sie bisher die großen Feste des Jahres im Kreise ihrer Familien zu feiern pflegten.

Und da Uns ferner kundgeworden ist, daß die Mehrzahl der Bürger Unserer guten Städte mit allen Kräften darauf hinarbeiten, ihren Töchtern, welche sich in Unserem Staate nur durch eine traurige und langweilige Sittsamkeit hervorgethan haben, eine Versorgung zu sichern: so befehlen Wir ihnen, daß sie mit deren Verheiratung warten sollen, bis selbige das gesetzlich bestimmte Alter erreicht haben und durch die Obrigkeit dazu angehalten werden.

Verbieten endlich Unseren Behörden, sich um die Erziehung ihrer Kinder zu bekümmern.« Diese Satire bezieht sich auf die ungerecht verteilten Steuern, durch die das unter Ludwig XIV. tief herabgekommene Land maßlos bedrückt wurde.

Paris, am 1. des Mondes Chalval, 1718.



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