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Zweiter Brief.
Usbek an den Obersten der schwarzen Verschnittenen in seinem Serail zu Ispahan.

Serail, eigentlich Seraï, ist nicht synonym mit Harem, sondern ganz allgemein die orientalische Bezeichnung eines herrschaftlichen Wohnhauses. Montesquieu scheint diesen Unterschied nicht gekannt zu haben, da er sich des Ausdrucks »Harem« im ganzen Buche nicht bedient.

Du bist der treue Wächter der schönsten Frauen in Persien. Ich habe Dir anvertraut, was mir auf der Welt am teuersten war. Du hältst in Deinen Händen die Schlüssel zu jenen verhängnisvollen Pforten, die sich nur für mich öffnen. So lange Du über diesen kostbaren Schatz meines Herzens wachst, hat es Ruhe und erfreut sich einer vollständigen Sicherheit. Du hältst Wache im Schweigen der Nacht wie im Lärm des Tages. Deine unermüdliche Sorgfalt stützt die Tugend, wenn sie schwankt.

Wollten die Frauen, die unter Deiner Obhut stehen, ihrer Pflicht ungetreu werden, so würdest Du ihnen die Hoffnung auf ein Gelingen benehmen. Du bist die Geißel des Lasters und die Säule der Treue.

Du gebietest ihnen und gehorchst ihnen. Du führst blind alle ihre Befehle aus und hältst sie gleichermaßen zum Gehorsam gegen die Gesetze des Serails an. Du findest Deinen Ruhm darin, ihnen die niedrigsten Dienste zu erweisen; Du unterwirfst Dich mit Achtung und Furcht allen ihren rechtmäßigen Anordnungen; Du dienst ihnen wie der Sklave ihrer Sklaven. Aber, umgekehrt, gebietest Du auch als Herr wie ich selbst, wenn Du eine Lockerung der Gesetze züchtiger Sitte befürchtest.

Erinnere Dich allezeit des Nichts, dem ich Dich entriß, als Du der letzte meiner Sklaven warst, um Dich auf diesen Platz zu erheben und Dir die Wonne meines Herzens anzuvertrauen. Dein Verhalten gegen die, welchen meine Liebe gehört, sei tiefe Unterthänigkeit; aber laß sie zu gleicher Zeit ihre äußerste Abhängigkeit fühlen. Gewähre ihnen jedes unschuldige Vergnügen; sorge, daß sie ihrer Ungeduld vergessen; ergötze sie durch Musik, Tänze und erquickende Getränke; überrede sie zu häufiger geselliger Unterhaltung. Wenn sie auf das Land gehen wollen, so kannst Du sie dahin führen; aber laß alle Männer niedermachen, die sich vor ihnen zeigen. Ermahne sie zur Reinlichkeit, die das Bild der Seelenreinheit ist; rede manchmal mit ihnen von mir. Ich möchte sie gern dereinst an dem lieblichen Orte wiederfinden, dessen Zierde sie sind. Lebe wohl.

Tauris, am 18. des Mondes Saphar, 1711.



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