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Hundertster Brief.
Rica an Rhedi in Venedig.

Es ist erstaunlich, welchem Wechsel die Launen der Mode »Ein veränderlicher Himmel scheint der Grund der Veränderlichkeit der Moden zu sein. Paris wechselt monatlich seine Trachten, und wir mit ihm. Der Kamtschadale wechselt so wenig als der Perser. Chardin versichert, daß der Schnitt an dem Kleide Tamerlans (1336-1405), das man noch zeigt, von der gegenwärtigen Kleidung der Perser nicht verschieden sei.« (Lichtenberg, Verm. Schriften, Bd. 5, S. 333.) bei den Franzosen unterworfen sind. Sie haben schon vergessen, wie sie in diesem Sommer gekleidet waren; aber noch viel weniger wissen sie, was sie im Winter anziehen werden. Das Unglaublichste jedoch ist der Aufwand, den ein Mann zu machen hat, damit seine Frau sich immer nach der Mode tragen könne.

Was könnte es mir nützen, Dir eine genaue Beschreibung ihrer Tracht und ihres Putzes zu geben? Eine neue Mode würde meine ganze Arbeit umstoßen, gerade wie diejenige der Schneider; und ehe Du noch meinen Brief erhieltest, würde alles sich verändert haben.

Wenn eine Dame für sechs Monate aufs Land geht, so kehrt sie von dort so altmodisch nach Paris zurück, als hätte sie sich dreißig Jahre lang vernachlässigt. Der Sohn erkennt das Bild seiner Mutter nicht, so fremd erscheint ihm das Kleid, in dem sie gemalt wurde; er meint, es stelle irgend eine Amerikanerin vor, oder der Maler habe darin eine freie Phantasie zum Ausdruck gebracht.

Manchmal wächst der Kopfputz nach und nach immer höher empor, und plötzlich läßt ihn eine allgemeine Umwälzung wieder ganz zusammenschrumpfen. Es hat eine Zeit gegeben, wo die ungeheuere Höhe desselben bewirkte, daß das Gesicht einer Frau die Mitte zwischen Fuß und Scheitel einnahm; ein andres Mal dagegen befanden sich die Füße in der halben Höhe der Gestalt, indem die Absätze sie nach Art eines Fußgestells in der Luft hielten. Und sollte man es glauben, daß die Baumeister oft gezwungen waren, ihre Thüren höher, niedriger oder weiter zu machen, je nachdem der weibliche Putz solche Veränderungen nötig machte, und daß die Regeln ihrer Kunst sich diesen Grillen fügen mußten? Zuweilen ist ihr Gesicht mit einer erstaunlichen Menge Schönheitspflästerchen besät, und am nächsten Tage sind sie alle verschwunden. Ehemals hatten die Frauen hier einen schlanken Wuchs und schöne Zähne; aber heutzutage ist davon nicht mehr die Rede. Wie man auch darüber urteilen möge, in dieser veränderlichen Nation finden die Töchter, daß sie ganz anders geformt sind, als ihre Mütter.

Mit den Gebräuchen und der Lebensweise steht es wie mit den Moden; je nach dem Alter ihres Königs ändern die Franzosen ihre Sitten. Sogar ernsthaft könnte der Monarch die Nation machen, wenn er es darauf anlegte. Der Fürst überträgt seine Geistesart auf den Hof, der Hof auf die Stadt, die Stadt auf die Provinzen. Die Seele des Landesherrn ist ein Modell, nach welchem alle anderen sich formen.

Paris, am 8. des Mondes Saphar, 1717.



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