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Einundachtzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Seit ich nach Europa gekommen bin, mein lieber Rhedi, habe ich mancherlei Regierungssysteme gesehen; denn es ist hier nicht wie in Asien, wo die Regeln der Staatskunst überall die nämlichen sind.

Ich habe viel darüber nachgedacht, welche Regierungsform wohl die vernunftgemäßeste sein mag, und bin zu dem Ergebnisse gelangt, die müsse die vollkommenste sein, welche ihr Ziel auf dem kürzesten Wege erreicht, mithin diejenige, welche die Menschen so leitet, wie es ihrem Hange und ihrer Neigung am meisten entspricht.

Wenn sich das Volk unter einer milden Herrschaft ebenso lenksam zeigt wie unter einer strengen, so verdient die erstere den Vorzug, weil sie der Vernunft angemessener, und weil Strenge kein natürlicher Beweggrund ist.

Verlaß Dich darauf, mein lieber Rhedi, daß mehr oder weniger grausame Strafen in keinem Staate größeren Gehorsam gegen die Gesetze zur Folge haben. In den Ländern, wo die Züchtigungen maßvoll angewendet werden, fürchtet man sie gerade so sehr, wie in denen, wo sie tyrannisch und schauderhaft sind.

Mag eine Regierung gelinde oder grausam sein, die Strafen müssen sich doch immer verhältnismäßig abstufen; ein mehr oder weniger großes Verbrechen wird mehr oder weniger streng geahndet. Unsere Vorstellungen richten sich ganz von selbst nach den Sitten des Landes, in welchem wir leben; acht Tage Gefängnis oder eine leichte Geldbuße machen denselben abschreckenden Eindruck auf den Geist eines Europäers, der an ein mildes Regiment von Jugend auf gewöhnt ist, wie der Verlust eines Armes auf den Geist eines Asiaten. Sie verbinden ein gewisses Maß von Furcht mit einem gewissen Maß von Strafe, und zwar jeder nach seiner nationalen Eigentümlichkeit. Ein Franzose fühlt sich zerschmettert durch den Ruin seiner Ehre, wenn er zu einer Strafe verurteilt worden ist, die einem Türken keine Viertelstunde seines Schlafes rauben würde. »Seitdem die Gesetze zu der Schwäche des Menschen herunterstiegen, kam der Mensch auch den Gesetzen entgegen. Mit ihnen ist er sanfter geworden, wie er mit ihnen verwilderte; ihren barbarischen Strafen folgen die barbarischen Verbrechen allmählich in die Vergessenheit nach. Ein großer Schritt zur Veredlung ist geschehen, daß die Gesetze tugendhaft sind, wenn auch gleich noch nicht die Menschen. Wo die Zwangspflichten von dem Menschen ablassen, übernehmen ihn die Sitten. Den keine Strafe schreckt und kein Gewissen zügelt, halten jetzt die Gesetze des Anstandes und der Ehre in Schranken.« (Schiller, Werke in 12 Bdn., Bd. 10, S. 372.)

Übrigens finde ich nicht, daß Polizei, Gerechtigkeit und Billigkeit in der Türkei, in Persien und beim Mogul besser ausgeübt werden, als in den Republiken Holland und Venedig, ja selbst in England; ich finde nicht, daß daselbst weniger Verbrechen begangen werden, und daß die Menschen, abgeschreckt durch die Höhe der Strafen, den Gesetzen dort besser gehorchen.

Ich erblicke vielmehr im Herzen eben dieser Staaten eine Quelle von Ungerechtigkeit und Bedrückungen.

Ich bin sogar der Ansicht, daß dort der Fürst, der das Gesetz selbst sein soll, weniger Herr ist als in irgend einem andren Lande.

Ich sehe, daß solche gewaltsame Maßregeln immer aufrührerische Bewegungen hervorrufen, wo niemand Anführer ist; und daß, wenn einmal die Autorität in ihrer Gewaltthätigkeit auf Verachtung gestoßen, niemand mehr Ansehen genug bewahrt, um sie wiederherzustellen.

Ich sehe, daß, selbst wo keine Strafe eintritt, Verzweiflung die Zerrüttung der Zustände begünstigt und steigert.

Ich sehe, daß es in solchen Staaten niemals bei einem unbedeutenden Aufstande bleibt, sondern daß in dem Augenblick des Murrens immer auch der wildeste Aufruhr losbricht.

Ich sehe, daß es dort keiner großen Ursachen bedarf, um die großen Ereignisse vorzubereiten; im Gegenteil, der geringste Zufall erzeugt eine große Revolution, die oftmals denen, welche sie erregen, ebenso unerwartet kommt wie denen, welche ihre Opfer sind.

Niemand von denen, welche den türkischen Kaiser Osman entthronten, hatte diese That vorher beabsichtigt; sie kamen nur, um Gerechtigkeit zu erflehen, da sie unter Bedrückungen leben mußten. Da ließ sich plötzlich aus der Menge wie zufällig eine Stimme vernehmen – niemals hat man erfahren, wem sie angehörte –; der Name »Mustapha« wurde ausgesprochen, und plötzlich war Mustapha Kaiser. Mustapha I. war von dem Großsultan Osman II. ins Gefängnis geworfen worden und gelangte wieder zur Regierung, als der letztere im Jahre 1622 von den Janitscharen erdrosselt wurde.

Paris, am 2. des ersten Mondes Rebiab, 1715.



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