Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierundsiebzigster Brief.
Rica an Usbek in ***.

Ein guter Bekannter sagte vor einigen Tagen zu mir: »Ich habe Ihnen versprochen, Sie in die besten Pariser Familien einzuführen. Heut sollen Sie einen großen Herrn kennen lernen, der sich wie wenige im Reiche zu repräsentieren weiß.«

»Was heißt das, mein Herr? Meinen Sie, er sei höflicher und leutseliger als andere Menschen?« – »Das, nun gerade nicht,« erwiderte er. – »O, ich verstehe! Nicht, wahr, er läßt alle Augenblicke merken, wie hoch er über jedem steht, der ihm nahe kommt? Wenn das der Fall ist, so bedanke ich mich für die Ehre; ich gebe mich schon besiegt und lasse ihm gern sein Übergewicht.«

Aber, wohl oder übel, mußte ich mitgehen. Da fand ich denn einen kleinen Mann, der seine Nase so hoch trug, mit so viel Anmaßung seine Prise Tabak nahm, sich so rücksichtslos schneuzte, so gleichmütig um sich spie, seine Hunde auf eine so widerwärtige Art liebkoste, daß ich nicht müde wurde, ihn zu bewundern. »Großer Gott!« dachte ich. »Repräsentierte ich mich auf solche Weise am persischen Hofe, so würde ich einen rechten Tropf repräsentieren!« Meinst Du nicht auch, Usbek, wir hätten von bösartigem Charakter sein müssen, um uns hundert kleine Beleidigungen gegen diejenigen herauszunehmen, die uns tägliche Beweise ihrer freundlichen Gesinnung gaben? Sie wußten gut genug, wie hoch wir über ihnen standen; und hätten sie es nicht gewußt, so würden unsere Wohlthaten sie alle Tage daran erinnert haben. Da wir nicht nötig hatten, uns Achtung zu verschaffen, so war es unsere einzige Sorge, uns beliebt zu machen; auch für die Geringsten waren wir zugänglich, und inmitten von Reichtum und Vornehmheit, die das Gemüt zu verhärten pflegen, fanden sie bei uns freundliche Teilnahme. Da wir uns zu ihren Bedürfnissen herabließen, so war es nur unser Herz, das sie sich überlegen fühlten. Wenn es aber galt, bei öffentlichen Ceremonien die Majestät des Fürsten würdig zu vertreten; wenn es galt, die Ehre unseres Volkes dem Auslande gegenüber hochzuhalten; wenn es endlich, als dem Vaterlande Gefahr drohte, die Soldaten zu begeistern galt: so erhoben wir uns hundertmal höher, als wir uns herabgelassen hatten; unsere Mienen wurden wieder stolz; und man fand bisweilen, daß wir uns ziemlich gut repräsentierten.

Paris, am 10. des Mondes Saphar, 1715.



 << zurück weiter >>