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Hundertundvierunddreißigster Brief.
Rica an denselben.

Am folgenden Tage begab ich mich wiederum in jene Bibliothek. Diesesmal traf ich daselbst einen ganz anderen Mann, als den, mit welchem ich mich bei meinem ersten Besuche unterhalten hatte. Sein Äußeres war einfach, sein Gesichtsausdruck geistvoll und sein Benehmen sehr freundlich. Sobald er meine Wißbegierde bemerkt hatte, machte er es sich zur Pflicht, sie zu befriedigen und mir die für einen Fremden wünschenswerte Aufklärung zu geben.

»Ehrwürdiger Vater,« fragte ich ihn, »was sind denn das für dicke Bände, die jene ganze Wand der Bibliothek einnehmen?« – »Das sind die Erklärer der heiligen Schrift,« versetzte er. – »Sie sind ja sehr zahlreich!« rief ich. »Die heilige Schrift scheint früher sehr dunkel gewesen zu sein; nun aber ist sie gewiß recht klar. Oder ist noch immer einiges zweifelhaft geblieben? Sollte es wirklich noch streitige Punkte geben?« – »Ob es noch welche giebt? Du lieber Gott, ob es noch welche giebt?« entgegnete er. »Fast so viele Zweifel wie Zeilen!« – »In der That?« sagte ich. »Aber was haben denn alle diese Schriftsteller gethan?« – »Diese Ausleger,« erklärte er mir, »haben in der heiligen Schrift nicht das gesucht, was man glauben soll, sondern was sie selbst glauben. Sie haben dieselbe nicht als ein Buch betrachtet, wo die Lehren, zu denen sie sich bekennen sollten, niedergelegt sind, sondern als ein Werk, das ihren eigenen Meinungen zum Belege dienen könnte. Aus diesem Grunde haben sie überall den Sinn entstellt und jeden Satz verdreht und verrenkt. Die Schrift ist ein Land, über das die Anhänger aller Sekten herfallen, als seien sie auf einem Raub- und Plünderungszuge; sie ist ein Schlachtfeld, auf dem die feindlichen Nationen, die sich gegenüberstehen, sich in vielen Kämpfen begegnen, auf einander einhauen und auf allerlei Weise mit einander plänkeln.

Daneben sehen Sie die asketischen Schriften oder Andachtsbücher; sodann diejenigen über Moral, welche viel nützlicher sind. Dies hier sind theologische Werke, doppelt unverständlich durch Form und Inhalt. Darauf folgen die Werke der Mystiker, das heißt, der Frommen, deren Herzen empfindsam sind.« – »Einen Augenblick, ehrwürdiger Vater!« fiel ich ihm ins Wort. »Eilen Sie nicht so; erzählen Sie mir etwas von diesen Mystikern!« – »Mein Herr,« belehrte er mich, »die Andacht erhitzt ein zur Zärtlichkeit beanlagtes Herz, so daß aus diesem Dämpfe ins Gehirn aufsteigen, welche dasselbe ebenso erhitzen. Daraus entstehen dann Verzückungen und seelische Trunkenheit. Dieser Zustand ist das Delirium der Andacht. Oftmals entwickelt sich derselbe oder entartet vielmehr zum Quietismus. Denn Sie müssen wissen, daß ein Quietist nichts anderes ist, als ein Narr, Frömmler und ausschweifender Mensch in einer Person. Diese Verspottung einer im Grunde edlen und tief gehaltvollen religiösen Richtung ist recht charakteristisch für die Pietätlosigkeit des achtzehnten Jahrhunderts. Begründer des Quietismus war der 1640 in Saragossa geborene spanische Priester Michael Molinos durch Buch »Guida spirituale«, das unser August Hermann Francke übersetzt hat. Gegenüber den rein äußerlichen Andachtsübungen der Jesuiten wird darin gezeigt, wie die Seele durch Reinheit von der Sünde, durch Gebet, durch Losmachen von den wertlosen Gebräuchen der Kirche sich dem Einflusse des göttlichen Geistes überläßt, um liebend in Gott unterzugehen und zum inneren Frieden zu gelangen. Molinos starb 1696 als Gefangener der Inquisition. Seine Lehre wurde in Frankreich wieder Gegenstand gehässiger Angriffe der Jesuiten, als die quietistische Frau von Guyon Lehrerin in Saint-Cyr (vergl. Brief 62, Anm. 101) geworden war. Auch der edle Fénelon wurde damals von Bossuet als Ketzer verklagt, Frau von Guyon in die Bastille geworfen. Sie schrieb »Les torrens«, von Schopenhauer ein »wundervolles Buch« genannt. – Übrigens sind die quietistischen Anhänger des Molinos nicht zu verwechseln mit den Molinisten; dies ist ein andrer Name für die Jesuiten, nach dem gerade ein Jahrhundert vor Molinos geborenen Molina. (Vergl. Pädagog. Bibl. IV, 3, Seite 33 ff.) Über die tiefe Weisheit des Mysticismus und Quietismus siehe Schopenhauer (Welt als Wille und Vorst. II, 702-707).

Sehen Sie hier die Casuisten, welche die Geheimnisse der Nacht zu Tage fördern. Sie brüten in ihrer Phantasie alle Ungeheuer aus, welche der Dämon der Liebe hervorbringen kann, vereinigen sie, vergleichen sie und machen sie zum ewigen Gegenstande ihres Nachdenkens. Wohl ihnen, wenn ihr Herz nicht davon angesteckt und zum Mitschuldigen all der Verirrungen wird, die sie so natürlich beschreiben und in solcher Nacktheit darstellen. Anspielung auf das obscöne Buch des Priesters Thomas Sanchez (1551-1610) »De matrimonio«. Über die Casuisten vergl. auch Brief 57.

Wie Sie sehen, mein Herr, habe ich freie Ansichten und sage Ihnen alles, was ich denke. Ich bin von Natur unbefangen, und ich bin es um so mehr Ihnen gegenüber, da Sie ein Fremder sind und die Dinge kennen lernen wollen, und zwar so kennen lernen, wie sie sind. Wenn es meine Art wäre, so würde ich Ihnen von diesem allen nur mit Bewunderung reden; ich würde unaufhörlich sagen: Dies ist göttlich, jenes verehrungswürdig oder wunderbar. Aber ich weiß nur zwei Möglichkeiten, deren eine daraus folgen müßte: Entweder würde ich Sie täuschen, oder ich würde in Ihren Augen die Achtung einbüßen.« Hier mußten wir aufhören. Ein dringendes Geschäft nötigte den Derwisch, unsere Unterhaltung bis zum nächsten Tage abzubrechen.

Paris, am 23. des Mondes Rhamazan, 1719.



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