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Neunundzwanzigster Brief.
Rica an Ibben in Smyrna.

Der Papst ist das Oberhaupt der Christen. Er ist ein alter Götze, dem man aus Gewohnheit Weihrauch streut. Ehemals übte er selbst über die Fürsten eine bedrohliche Macht; denn es war ihm ebenso leicht, sie abzusetzen, wie unsere erhabenen Sultane die Könige von Irimetta und Georgien vom Thron stoßen. Aber jetzt fürchtet man ihn nicht mehr. Er nennt sich Nachfolger eines der ersten Christen, Namens Sankt Peter: und augenscheinlich besitzt er dadurch eine reiche Erbschaft; denn seine Schätze sind unermeßlich, und ein großes Land ist ihm unterthan.

Die Bischöfe sind Rechtskundige und stehen unter seiner Oberhoheit. In seinem Namen haben sie zwei sehr stark von einander unterschiedene Ämter zu versehen. Wenn sie versammelt sind, so machen sie, wie er selbst, Glaubensartikel. Sind sie aber allein, so liegt ihnen weiter nichts ob, als die Leute von der Erfüllung des Gesetzes zu dispensieren. Denn Du mußt wissen, daß die christliche Religion mit einer Unmenge sehr schwieriger Pflichtübungen überladen ist. Und da man zu der Einsicht kam, es sei schwerer, seine Pflichten zu erfüllen, als Bischöfe zu haben, durch die man davon entbunden wird: so hat man zum allgemeinen Besten die letzterwähnte Methode eingeführt. Will man also den Rhamazan Rhamazan ist für alle Muhamedaner der Monat des Fastens und strenger Enthaltsamkeit. Montesquieu selbst wurde vom Papst Benedikt XIII. mit dem Recht beschenkt, Freitags Fleisch genießen zu dürfen. (Siehe Montesquieus »Betrachtungen«, Einleitung von Robert Habs, Seite 7; 1722-23 der Universal-Bibliothek.) nicht halten oder sich den Formalitäten des Eheschlusses nicht unterziehen; will man seine Gelübde nicht erfüllen oder sich trotz gesetzlicher Hindernisse verheiraten; ja sogar manchmal, wenn man seinen Eid brechen will: so geht man zum Bischof oder zum Papst, der Einem sofort den Dispens Die Erlaubnis zum Eidbruch konnte man sich um neunundzwanzig Livres fünf Sous kaufen. (Siehe Taxes de la Chancellerie romaine, chap. 36. 1820). erteilt.

Die Bischöfe stellen ihre neuen Glaubenssätze nicht aus eigenem Antriebe auf. Es giebt eine Unzahl von Schriftgelehrten, meist Derwische, welche tausenderlei neue Streitfragen über die Religion unter sich aufwerfen. Man läßt sie geraume Zeit darüber disputieren, und der Streit dauert so lange, bis ein Machtspruch ihn entscheidet.

Ich kann Dir auch die Versicherung geben, daß niemals in einem Reiche so viele Bürgerkriege stattgefunden haben wie in dem Reiche Christi.

Diejenigen, welche irgend ein neues Dogma aufstellen, werden sofort Ketzer genannt. Jede Ketzerei hat ihren Namen, welcher denen, die ihr beitreten, gleichsam als Feldgeschrei dient. Aber keiner gilt als Ketzer, der es nicht will. Er braucht nur eine Hälfte seines Dogmas zu verleugnen und denen, die ihn der Ketzerei anklagen, eine Darlegung des Restes zu geben: und welcher Art diese Darlegung auch sei, verständlich oder nicht: sie macht einen weiß wie Schnee, und er darf sich einen Rechtgläubigen nennen lassen.

Doch gilt das Gesagte nur für Frankreich und Deutschland; denn ich habe gehört, daß es in Spanien und Portugal Derwische giebt, die keinen Spaß verstehen und Menschen verbrennen wie Stroh. Wer diesen Herren in die Hände fällt, darf sich glücklich preisen, wenn er immer mit kleinen Holzkugeln in der Hand zu Gott gebetet, zwei Tuchstückchen an zwei Bändern Das Scapulier. bei sich getragen und manchmal die Provinz Galizien Der spanische Wallfahrtsort Santiago di Compostella. besucht hat. Ohne das geht es einem armen Teufel schlecht. Und sollte er schwören wie ein Heide, daß er ein Rechtgläubiger sei, man könnte doch leicht über seine Eigenschaften im Zweifel bleiben und ihn als Ketzer verbrennen. Es würde ihm wenig helfen, das Unterscheidende seines Standpunktes darzulegen. Keinen Unterschied! Er wäre schon zu Asche geworden, ehe man nur daran gedacht hätte, ihn, zu hören.

Sonst nehmen die Richter die Unschuld eines Angeklagten an; diese halten aber jeden für schuldig. In zweifelhaften Fällen befolgen sie die Regel, sich für das Schlimmste zu entscheiden; augenscheinlich, weil sie die Menschen für schlecht halten. Auf der andren Seite jedoch haben sie eine so gute Meinung von ihnen, daß sie ihnen niemals eine Lüge zutrauen; denn sie hören auf das Zeugnis von Todfeinden, liederlichen Weibspersonen und Leuten, die ein ehrloses Gewerbe treiben. Wenn sie ihr Urteil sprechen, so machen sie dem, der im schwefelgelben Hemde vor ihnen steht, ein kleines Kompliment. Sie sagen ihm, wie leid es ihnen thue, ihn so schlecht bekleidet zu sehen; denn sie seien milde, verabscheuten das Blutvergießen und fühlten sich in Verzweiflung darüber, daß sie ihn hätten verurteilen müssen. Doch zu ihrem Troste konfiscieren sie die gesamte Habe solcher Unglücklichen zu ihrem Vorteil.

Glücklich das Land, wo die Kinder des Propheten wohnen. Solche traurigen Schauspiele sind daselbst unbekannt Die Perser sind unter allen Muhamedanern die tolerantesten. (* Gleichwohl berichtet Malcolm in seiner Geschichte Persiens, entgegen vorstehender Anmerkung Montesquieu's, daß dort Sektirern auf Befehl des Fürsten Nase und Ohren abgeschnitten wurden. Die Opfer dieser barbarischen Intoleranz waren Anhänger des Sufismus, der seinerseits Toleranz als einen Hauptgrundsatz lehrt und dem auch Bodenstedts Lehrer Mirza Schaffy angehörte.). Die heilige Religion, welche die Engel dahin gebracht haben, verteidigt sich durch die ihr innewohnende Kraft der Wahrheit; sie bedarf zu ihrer Erhaltung keiner solchen gewaltsamen Mittel.

Paris, am 4. des Mondes Chalval, 1712.



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