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Achtundfünfzigster Brief.
Rica an Rhedi in Venedig.

In Paris, mein lieber Rhedi, giebt es vielerlei Gewerbe. Ein gefälliger Mann bietet Dir hier für wenig Geld das Geheimnis der Goldmacherkunst an.

Ein andrer verspricht Dir den Beischlaf mit den Luftgeistern, Die Kabbalisten glaubten, daß es den Philosophen möglich sei, Geister (Sylphen) zu heiraten, und daß die Sylphen solche Heirat sehr ersehnten, da sie ursprünglich sterblich sind, aber durch die Ehe mit einem unsterblichen Menschen an dessen Unsterblichkeit teilnehmen. (Siehe Lecky, Hist. of Rationalism, I, 43) Andersen hat wohl auf dieser Lehre sein Märchen von der Seejungfrau aufgebaut, die durch Liebe eine unsterbliche Seele gewinnen will. (Vergl. auch Brief 143, Anm. zu Kabbala.) vorausgesetzt, daß Du Dich nur dreißig Jahre der Weiber enthältst.

Ferner findest Du hier so geschickte Wahrsager, daß sie Dir Deinen ganzen Lebenslauf beschreiben, wenn sie sich vorher nur eine Viertelstunde mit Deinen Dienstboten unterhalten haben.

Verschmitzte Weibsleute machen die Jungfrauschaft zu einer Blume, die täglich welkt und wieder aufblüht und sich beim hundertstenmale unter größeren Schmerzen pflücken läßt, als beim ersten.

Eine andere Klasse besitzt die Kunst, alle Verwüstungen der Zeit wieder auszugleichen, und weiß die absterbende Schönheit neu zu beleben; ja mit ihrer Hilfe kann eine Frau vom Gipfel des Alters wieder bis zur zartesten Jugend hinabsteigen

Alle diese Leute leben oder suchen zu leben in einer Stadt, welche die Mutter der Erfindungen ist.

Das Einkommen der hiesigen Bürger ist unsicher und beruht ganz auf ihrem Verstand und Fleiß; jeder sucht den seinigen nach besten Kräften zu verwerten.

Wer die Zahl von Rechtsgelehrten nennen wollte, die ihre Netze nach den Einkünften einer Moschee auswerfen, könnte ebenso schnell den Sand am Meere und die Sklaven unseres Monarchen zählen.

Zahllose Lehrer der Sprachen, der Künste und der Wissenschaften erteilen Unterricht in Dingen, die sie nicht verstehen, und das erfordert bedeutendes Talent; denn man braucht nicht viel Geist, um zu zeigen, was man weiß; aber man braucht unendlich viel, um zu lehren, was man nicht weiß.

Sterben kann man hier nur eines plötzlichen Todes; das ist die einzige Art, wie der Tod seine Macht ausüben kann; denn in allen Winkeln giebt es hier Leute, welche unfehlbare Mittel gegen jede erdenkliche Krankheit besitzen.

Sämtliche Kaufläden sind umspannt mit unsichtbaren Netzen, in welchen alle Käufer hängen bleiben. Doch kann man sich manchmal recht wohlfeil wieder loskaufen; eine junge Verkäuferin umschmeichelt einen Herrn wohl eine Stunde lang, damit er ihr ein Päckchen Zahnstocher abnehme.

Nie verläßt jemand diese Stadt, ohne vorsichtiger geworden zu sein, als er es bei seiner Ankunft war; indem man seinen Besitz mit anderen teilen muß, lernt man, ihn zusammenzuhalten; und das ist der einzige Vorteil eines Fremden in dieser bezaubernden Stadt.

Paris, am 10. des Mondes Saphar, 1714.



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