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Hundertundelfter Brief.
Rica an ***.

Die Rolle einer hübschen Frau ist viel beschwerlicher, als man ahnt. Es giebt nichts Ernsthafteres, als was sich des Morgens an ihrem Putztische zuträgt, wenn Zofen und Bediente sie umgeben. Der General eines Heeres handelt nicht umsichtiger in der Aufstellung seines rechten Flügels oder seines Reservekorps, als sie, indem sie ein Schönpflästerchen auflegt, das nicht gerade unentbehrlich ist, aber von dem sie sich eine gute Wirkung verspricht.

Welchen Zwang muß sie sich anthun, wie aufmerksam sein, um unablässig zwischen den Interessen zweier Nebenbuhler auszugleichen, um beiden neutral zu erscheinen, während sie sich beiden gleichzeitig hingiebt, und um bei jeder Klage, zu der sie ihnen Veranlassung bietet, die Vermittlung zu übernehmen!

Welche Arbeit, immer neue Lustpartien zu veranstalten, sie in unablässiger Folge zu wiederholen und allen Zufällen, die sie vereiteln könnten, vorzubeugen!

Bei alledem kostet es ihnen nicht so große Mühe, vergnügt zu sein, als vergnügt zu scheinen. Möge man sie langweilen so viel man will, sie werden es verzeihen, wenn man nur glaubt, daß sie sich gut unterhalten haben.

Vor einigen Tagen nahm ich an einem Abendessen teil, das eine Anzahl Damen auf dem Lande veranstaltet hatten. Unterwegs sagten sie immer wieder: »Auf alle Fälle müssen wir recht heiter sein und uns gut amüsieren.«

Es fand sich, daß die Gesellschaft nicht recht zusammen paßte; daher war niemand guter Laune. Eine von den Frauen aber sagte: »Das muß man wirklich gestehen, wir unterhalten uns vortrefflich. In ganz Paris ist heut keine Gesellschaft so lustig wie wir.« Da die Langeweile mich stumm machte, so stieß meine Nachbarin mich an, indem sie ausrief »Nun, sind wir nicht fröhlich und guter Dinge?« »Jawohl,« antwortete ich ihr gähnend, »ich glaube, ich werde noch bersten vor Lachen.« Indessen vermochten doch alle diese Betrachtungen nichts gegen die allgemeine Verstimmung; und was mich selbst betrifft, so gähnte ich einmal über das andere, bis ich in einen lethargischen Schlaf verfiel, der allem meinem Vergnügen ein Ende machte.

Paris, am 11. des Mondes Maharram, 1718.



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