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Hundertundfünfundvierzigster Brief.
Usbek an ***.

Ein geistreicher Mann ist in Gesellschaften im allgemeinen schwer zu befriedigen. Er läßt sich nur mit wenigen ein; die ganze große Zahl der Leute, die er schlechte Gesellschaft zu nennen beliebt, langweilt ihn; es ist ihm unmöglich, seinen Widerwillen völlig zu verbergen: und so macht er sich viele Feinde.

In dem Bewußtsein, daß er gefallen kann, wenn er will, vernachlässigt er es gar häufig.

Er muß kritisieren, weil er mehr sieht, als andere Leute, und es tiefer empfindet.

In den meisten Fällen ruiniert er sein Vermögen, weil ihn seine Vielseitigkeit auf mannigfaltigere Weise in Versuchung führt.

Er scheitert in seinen Unternehmungen, weil er viel wagt. Sein Blick, der stets auf ferne Ziele gerichtet ist, zeigt ihm, was zu weit entlegen ist. Dazu kommt noch, daß ihm bei einem neuen Plane die in der Sache liegenden Schwierigkeiten weniger gegenwärtig sind, als das Vertrauen auf seine eigene Kraft und die Mittel, die ihm persönlich zu Gebote stehen.

Er vernachlässigt die Kleinigkeiten, obwohl von diesen der Erfolg fast jedes großen Unternehmens abhängt. Den nämlichen Gedankengang hat Montaigne ausführlich behandelt. (Essais, II, 20.)

Andrerseits sucht der Durchschnittsmensch aus allem Vorteil zu ziehen; denn er fühlt recht gut, daß er von seinem Wenigen nichts leichtsinnig aufs Spiel setzen darf.

Der Mittelmäßige findet gewöhnlich größeren Beifall in der Welt. Man zollt ihm gern, was man jenem mit wahrer Befriedigung versagt. Während der Neid den einen verfolgt, und ihm nichts verziehen wird, bemäntelt man alle Schwächen des anderen; denn es ist die Eitelkeit, die für ihn Partei ergreift. »Geistesüberlegenheit jeder Art ist eine sehr isolierende Eigenschaft, die geflohen und gehaßt wird. – – Daher sitzt z. B. in den Akademien die liebe Mediokrität stets oben auf, Leute von Verdienst hingegen kommen spät oder nie hinein.« (Schopenhauer, Parerga I, 491.) Natürlich ist dies eine pessimistische Übertreibung.

Wenn aber ein geistreicher Mann gegen so viele Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wie sollen wir dann das harte Los der Gelehrten beurteilen?

Niemals kommt mir dieser Gedanke, ohne daß ich mich des Briefes erinnere, den ein Freund von mir von einem Gelehrten empfing. Derselbe hatte folgenden Inhalt:

»Mein Herr,

Ich beschäftige mich damit, allnächtlich durch ein dreißig Fuß langes Fernrohr die großen Weltkörper zu beobachten, die über unsren Häuptern dahin rollen; und wenn ich mich erholen will, so beschaue ich durch meine kleinen Mikroskope eine Milbe oder eine Miete.

»Ich bin nicht reich und habe nur eine einzige Stube. Diese wage ich nicht einmal zu heizen, weil sich mein Thermometer darin befindet, das die ungewohnte Wärme zum Steigen bringen würde. Vergangenen Winter meinte ich, die Kälte müsse mich umbringen; und obwohl mein Thermometer auf den niedrigsten Grad gesunken war und mir ankündigte, daß meine Hände erfrieren würden, habe ich mich dadurch nicht stören lassen. Dafür kann ich mich nun damit trösten, von den unmerklichsten Temperaturveränderungen des ganzen verflossenen Jahres genaue Kenntnis zu besitzen.

»Ich komme wenig unter die Leute und kenne niemand von allen, die ich sehe. Aber mit einem Mann in Stockholm, mit einem andren in Leipzig und mit einem dritten in London, die ich alle niemals persönlich gesehen habe und voraussichtlich niemals sehen werde, unterhalte ich einen so regelmäßigen Briefwechsel, daß ich keinen Kourier abgehen lasse, ohne ihnen zu schreiben.

»Aber obgleich ich in meinem Stadtviertel keinen einzigen Bekannten habe, stehe ich doch daselbst in so schlechtem Rufe, daß ich endlich genöthigt sein werde, es zu verlassen. Vor fünf Jahren wurde ich von einer Nachbarin gröblich beleidigt, weil ich einen Hund seciert hatte, von dem sie behauptete, er sei ihr Eigentum gewesen. Die Frau eines Schlächters stand dabei und mischte sich ein; und während jene mich mit Schimpfwörtern überhäufte, schleuderte diese einen Hagel von Steinen nach mir und nach dem Doktor ***, der sich in meiner Gesellschaft befand und von einem furchtbaren Wurfe auf den Stirn- und Hinterhauptknochen so schwer getroffen wurde, daß der Sitz der Vernunft dabei eine starke Erschütterung erlitt.

»So oft seit jener Zeit am Ende der Straße ein Hund abhanden kommt, ist es alsbald ausgemacht, daß ich ihn abgefangen habe. Ein braves Bürgerweib, die ihr Hündchen verloren hatte, das sie mehr zu lieben behauptete als ihre Kinder, wollte neulich in meiner Stube in Ohnmacht fallen; und da sie das Tier nicht bei mir fand, citierte sie mich auf die Polizei. Ich glaube, ich werde niemals von der überlästigen Bosheit dieser Frauenzimmer erlöst werden, deren kreischende Stimmen mich unaufhörlich mit der Leichenrede aller seit zehn Jahren gestorbenen Automaten Unter Automaten sind hier die Hunde zu verstehen. Dies beweist, daß obiger Vivisektor ein Cartesianer war; denn Descartes erklärt die Tiere für vernunftlose Maschinen oder Automaten, deren Organismus thätig ist wie das Räderwerk einer Uhr. ( Discours de la méthode, V. ) betäuben.

»Ich verbleibe, u. s. w.«

Alle Gelehrten standen ehemals im Verdacht der Zauberei, und ich finde das gar nicht überraschend; denn jeder sagte zu sich selbst: »Ich habe meine natürlichen Gaben bis zu ihrer äußersten Grenze entwickelt; aber jener Gelehrte dort hat noch etwas vor mir voraus: dahinter muß irgend eine Teufelskunst stecken.« Heutzutage, wo solcherlei Beschuldigungen in Verruf, gekommen sind, hat man einen andern Ausweg gefunden, und ein Gelehrter vermag kaum dem Vorwurf des Unglaubens oder der Ketzerei zu entgehen. Hiermit parierte Montesquieu im voraus die Schläge, die er erwarten durfte, und die besonders von dem Abbé Gaultier in seiner Schrift »Des Lettres persanes convaincues d'impiété« ausgingen. Auch wegen des »Geist der Gesetze« wurde er später der Irreligiosität bezichtigt. Es ist ganz umsonst, ob die Stimme des Volkes ihn rechtfertigt; ist die Wunde einmal geschlagen, so wird sie niemals völlig wieder heilen. Er wird immer einen wunden Fleck behalten. Noch nach dreißig Jahren kommt vielleicht ein Gegner und sagt mit bescheidener Miene: »Gott verhüte, daß ich behaupte, es sei etwas Wahres an jener alten Beschuldigung! Aber Sie sind doch gezwungen gewesen, sich zu verteidigen.« Auf diese Weise macht man selbst aus seiner Rechtfertigung eine Anklage.

Wenn er ein Geschichtswerk schreibt, in welchem edle Gesinnung und Wahrheitsliebe zum Ausdruck kommen, so erregt man gegen ihn tausend Verfolgungen. Wegen eines Ereignisses, das sich vor tausend Jahren zugetragen hat, schickt man ihm die Behörden auf den Hals. Und man möchte seine Feder in Fesseln legen, wenn sie nicht käuflich ist.

Trotz alledem ist er glücklicher als jene Niederträchtigen, die für eine mäßige Pension ihren Glauben verraten; denen ihre Betrügereien, wenn man sie alle einzeln betrachtet, Stück für Stück nicht einen Pfennig einbringen; welche die Verfassung des Reiches umstoßen, die Rechte der einen Macht verkürzen, die einer anderen vermehren, den Fürsten geben, was sie dem Volke nehmen, überlebte Vorrechte wieder auffrischen, den Leidenschaften, die gerade in Gunst stehen, und den Lastern, die den Thron behaupten, schmeicheln und das Urteil der Nachwelt um so unverantwortlicher trüben, je weniger diese imstande ist, ihr Zeugnis zu entkräften.

Aber bei all jenen Beschimpfungen, die ein Schriftsteller erfährt, hat es noch nicht sein Bewenden; und es genügt noch nicht, daß er wegen des Erfolges seines Werkes in beständiger Unruhe geschwebt hat. Endlich erscheint es, dies Werk, das ihm so viel gekostet hat: und es erweckt ihm Feinde auf allen Seiten. Aber wie konnte er dem entgehen? Er hatte eine Ansicht, und er brachte sie in seinen Schriften zum Ausdruck; er ahnte nicht, daß zweihundert Meilen von ihm jemand gerade das Gegenteil behauptet hatte; indessen, ehe er sichs versieht, kommt es zum Kriege.

Wenn er wenigstens noch auf einige Anerkennung hoffen könnte! Aber keineswegs! Höchstens wird er von denjenigen geschätzt, welche sich demselben Gebiet der Wissenschaft wie er selbst gewidmet haben. Ein Philosoph blickt auf denjenigen mit souveräner Verachtung, dessen Kopf voll Thatsachen steckt; und seinerseits wird er wieder von dem, der sich eines guten Gedächtnisses erfreut, als ein Träumer angesehen.

Was dagegen jene betrifft, die in aufgeblasener Unwissenheit einhergehen, so wäre es ihnen am liebsten, wenn das ganze menschliche Geschlecht in derselben Vergessenheit begraben würde, die ihnen selbst bevorsteht.

Es giebt Menschen, die sich für den Mangel eines Talents dadurch entschädigen, daß sie es verachten. Sie reißen diese Scheidewand nieder, welche sie von dem Verdienste trennt, und auf solche Art finden sie sich denen gleichgestellt, deren Anstrengungen sie fürchten.

Mit einem Worte, man erkauft einen zweifelhaften Ruhm um den Preis des Lebensgenusses und einer ruinierten Gesundheit.

Paris, am 20. des Mondes Chahban, 1720.



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