Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Hundertundzweiunddreißigster Brief.
Rica an ***.

Es ist etwa fünf oder sechs Monate her, seit mir eines Tages in einem Kaffeehause ein ziemlich wohlgekleideter Edelmann auffiel, der in lebhafter Unterhaltung begriffen war. Er sagte, welch ein Vergnügen es sei, in Paris zu leben, und bedauerte, daß seine Lage ihn nötige, in der Provinz zu wohnen. »Ich beziehe,« erzählte er, »fünfzehntausend Livres Renten von meinen Gütern; aber ich würde mich glücklich fühlen, wenn ich nur ein Viertel dieses Vermögens in Gelde oder in beweglichen Effekten besäße. Es ist ganz umsonst, meine Pächter zu drängen und ihnen Prozeßkosten zu verursachen; sie werden dadurch nur noch zahlungsunfähiger. Ich habe noch niemals hundert Pistolen auf einmal erhalten können. Wenn ich zehntausend Francs Schulden machte, so würde man alle meine Güter mit Beschlag belegen, und ich könnte ins Armenhaus gehen.«

Ich entfernte mich, ohne diesem Gerede große Aufmerksamkeit zu schenken. Als mich aber gestern der Zufall in denselben Stadtteil führte, machte ich dem Lokal wieder einen Besuch und fand daselbst einen ernsten Mann mit bleichem, langem Gesicht. Mitten unter fünf oder sechs schwatzenden Leuten erschien er trübsinnig und in Gedanken versunken; auf einmal aber ergriff er ungestüm das Wort und sagte mit erhobener Stimme: »Ja, meine Herren, ich bin ruiniert; ich habe nicht mehr genug, um davon zu leben; denn ich besitze jetzt nur noch zweihunderttausend Livres in Banknoten und hunderttausend Thaler in Silber. Meine Lage ist ganz schauderhaft; ich hatte mich für reich gehalten, und nun bin ich am Armenhause angelangt. Hätte ich zum wenigsten ein kleines Landgut, wohin ich mich zurückziehen könnte, so wüßte ich doch, wovon ich leben soll; aber ich habe nicht so viel Grundeigentum, als ich mit meinem Hut bedecken kann.«

Von ungefähr wandte ich den Kopf nach einer andren Seite und wurde eines Menschen ansichtig, der Gesichter schnitt wie ein Besessener. »Wem soll man noch trauen?« rief er aus. »Baute ich doch so fest auf die Freundschaft des schuftigen Kerls, daß ich ihm all mein Geld geliehen habe; und da giebt er es mir wieder. Welche grausige Treulosigkeit! Mag er jetzt anstellen, was er will, ich werde ihn immer für einen Ehrlosen halten.«

Nahe dabei saß ein Mann in sehr fadenscheiniger Kleidung, der die Augen zum Himmel erhob und sagte: »Gott segne die Pläne unserer Minister! Könnte ich doch erleben, daß die Aktien auf zweitausend stiegen, und alle Bedienten von Paris reicher würden als ihre Herren!« In meiner n Neugier fragte ich nach seinem Namen. »Das ist ein überaus armer Mann,« antwortete man mir, »und das Gewerbe, welches er betreibt, bringt wenig ein. Er ist ein Genealog und hofft, daß seine Kunst ihm etwas abwerfen wird, wenn das Glück günstig bleibt; er denkt, daß alle diese neugebackenen Reichen seiner benötigt sein werden, um ihre Namen aufzustutzen, ihren Ahnen den Staub der niedrigen Herkunft abzuwaschen und ihre Kutschen mit Wappenschildern zu schmücken. Er bildet sich ein, daß er so viele vornehme Herren wird machen können, wie ihm beliebt, und die Freude macht ihn ordentlich zittern, daß seine Kundschaft sich so vermehren könnte.«

Endlich sah ich einen bleichen, hageren Alten eintreten, in dem ich einen Neuigkeitskrämer erkannte, noch ehe er sich gesetzt hatte. Er gehörte nicht zur Zahl derer, welche allen Schlägen des Schicksals eine siegesbewußte Zuversicht entgegensetzen und immerfort Erfolge und Trophäen verkünden; er war vielmehr einer von jenen zaghaften Unglückspropheten, die nur traurige Nachrichten zu erzählen wissen. »Es steht sehr schlimm in Spanien,« sagte er; »wir haben keine Reiterei an der Grenze, und man muß befürchten, daß Prinz Pio, der ein großes Corps hat, ganz Languedoc brandschatzen wird.« Mir gegenüber saß ein in seinem Äußeren ziemlich vernachlässigter Philosoph, der den Neuigkeitskrämer mitleidig ansah und die Achseln zuckte, so oft dieser seine Stimme erhob. Als ich mich ihm näherte, flüsterte er mir ins Ohr: »Hören Sie wohl, wie dieser Tropf uns nun schon eine Stunde lang mit seinem Jammer um Languedoc langweilt? Und indessen habe ich gestern Abend einen Fleck in der Sonne bemerkt, dessen Vergrößerung die ganze Natur zu Eis erstarren lassen könnte; und ich habe kein Wort darüber verloren.«

Paris, am 17. des Mondes Rhamazan, 1719.



 << zurück weiter >>